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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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über den Mund. »Sag’s mir bitte. Ist es richtig?«
    »Ich glaube, du müsstest meinen Gott wieder kleinlich finden, wenn für ihn nur eine einzige Deutung richtig wäre«, antwortete er. »Das ist bei europäischen Göttern nicht anders, oder? Aber ja, eine Gestalt von Quetzalcoatl ist die, die Felix gemalt hat. Der Gott, der sich von der Nabelschnur, die ihn im Alten festhält, losreißt, ehe er zum Morgenstern werden kann. Und der dabei Mexiko mitnimmt, wenn wir es ihm erlauben.« Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Und da wir beim Thema sind, besuchen wir jetzt La Llorona, ja? Sie ist krank. Sie kann nicht länger warten.«
    »Wer ist sie, Benito?«
    »Die Leute im Dorf nennen sie die Graue am Berg. Aber so heißt sie nicht. Sie heißt Vera.«
    Katharina wurde kalt. Sie war sicher, dass sie jemanden namens Vera kannte, dass sie von ihr hatte sprechen hören, aber niemand fiel ihr ein. An den Säumen des Pfades ragten wie schützende Mauern die Pflanzen des Bergkaffees auf, doch ihr Schutz würde enden – und was lag dahinter?
    Sie musste sich zwingen, weiterzugehen. Ihre Beine, ihre Hände, alles schien vor Kälte erstarrt. Als sie die Kaffeefelder hinter sich hatten und eine Felsnase umrundeten, kam die Hütte in Sicht, halb verborgen unter einer gewaltigen Agave. »Wird sie mir sagen, wer ich bin?«, fragte sie mit so leiser Stimme, dass sie Benito, der das Haus fast erreicht hatte, unmöglich gehört haben konnte.
    Abrupt blieb er stehen und schwang herum. »Nein«, antwortete er. »Wer du bist, sage ich dir.« Sie lief ihm entgegen, und er fing sie in den Armen, wirbelte sie ein Stück um sich selbst und setzte sie wieder auf den Boden. Sein funkelnder Blick hielt den ihren fest. »Du bist Katharina Lutenburg, die alles bekommt, was sie will, auch wenn es mehr ist, als sie schlucken kann. Du bist Ichtaca, mein Geheimnis, das schlecht träumt, weil jemand einen kleinen Dieb schlägt, und sich nicht merken kann, wie mein Schlangengott heißt. Du bist das wundervollste Geschöpf, das mir jemals begegnet ist, das verrückteste, mutigste, das lebendigste und das schönste. Das bleibt so, egal, wer deine Eltern sind. Du wirst morgen immer noch gern das komische Zeug essen, das sich im Mund bläht und ewig in den Zähnen klebt, du wirst dein Haar grässlich finden, beim Setzen vergessen, deinen Rock glatt zu ziehen, und du wirst dich fragen, ob wir dem Kaiser nicht eine Stelle als Straßenbauminister geben sollten.«
    Sie reckte sich und küsste seine Augen. Wie kann ich dich denn gehen lassen? Wie soll ich denn dazu stark genug sein? Ich habe im Mund, wie Glück schmeckt, selbst jetzt, selbst nach allem – wie soll ich aushalten, dass ich es wieder nicht behalten darf? »Ist es wirklich so?«, fragte sie. »Bist du dir sicher?«
    »Aber ja«, erwiderte er. »Man erschrickt sich. Aber als Nächstes hat man Hunger oder muss Wasser lassen, ob man mit Damen darüber spricht oder nicht.«
    »Woher weißt du das?«
    »Mein Vater war ein Bandito«, sagte er völlig gelassen. »Einer, der Leute überfiel und drohte, ihnen die Hälse durchzuschneiden, wenn nicht jemand Lösegeld für sie zahlte.«
    Sie griff nach seiner Hand. »Das tut mir so leid«, murmelte sie.
    »Muss es nicht. Ich schneide niemandem den Hals durch, ich lasse meine Familie nicht mittellos zurück, ich muss gar nichts tun, was mein Vater getan hat. Und du auch nicht. Jetzt komm. Im Übrigen war dein Vater kein Bandito. Er ist nur wie einer gestorben.«
    Ehe sie ihn hindern konnte, war er weitergegangen. Ihr blieb nichts übrig, als ihm bis vor den Eingang der Hütte zu folgen. Er klopfte an die Tür und rief auf Deutsch: »Doña Vera? Hier ist Benito Alvarez. Ich bringe Ihnen Katharina.«
    Drinnen ertönte ein Geräusch, und Katharina sah Benitos Hand, die sich auf die Klinke senkte. Sie packte seinen Arm, so fest, dass es ihm weh tun musste. »Benito«, flüsterte sie, »ich bin schwanger.«
    »Aha«, sagte er und drückte die Klinke hinunter. »Und ich bin nicht blind.«

59
    Die Frau saß in einem Lehnstuhl. Sie hatte Haare, die so lang waren wie ihre eigenen, und das weißeste Gesicht, das sie je gesehen hatte. Sie war mager wie ein Gerippe – die Knochen unter der papiernen Haut würden genauso weiß sein.
    Die Augen erkannte Katharina sofort. Sie sah sie an, und die Frau brauchte nichts mehr zu sagen. Es waren die Augen, von denen die Lise ihr erklärt hatte, sie seien hübsch und ein Ausgleich für das grässliche Haar. Die Augen,

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