Im Land der Kaffeeblüten (German Edition)
Margarete zuckte die Schultern. Sie hatte nie verstanden, dass man sich die Nacht um die Ohren schlug, um nach Sternbildern zu suchen. Für sie sah ein Stern aus wie der andere. Hell strahlend und weit weg.
Sehr weit weg. So weit weg wie Juan.
Sie schluckte und biss sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Nein, sie würde nicht um ihn weinen. Ob er wohl um sie trauerte? Margarete trat einen Schritt näher an die Reling heran und lehnte sich nach vorn. In ihrem weißen Kleid würde man sie sofort erkennen. Wie Ophelia würde sie aussehen. Das blonde Haar um sich ausgebreitet, glänzend im Licht des Vollmonds. Nun gut, des zunehmenden Mondes. Wenn man sie gefunden hätte, würde es ihrem Vater leidtun, dass er sie zu etwas hatte zwingen wollen, das sie nicht wünschte. Aberdann wäre es zu spät. Und Juan würde zutiefst bereuen, dass er ihr nie geschrieben hatte.
Mit Schwung setzte Margarete ihren Schnürstiefel auf eine Kiste und zog sich an der Reling hoch. Nur noch die schmalen Stäbe hielten sie vom Meer zurück. Ob Ertrinken schnell ging? Sie schluckte erneut. Ihre Kehle fühlte sich trocken an, während ihre Handflächen feucht wurden. War es wirklich die richtige Entscheidung? Aufgeben war doch nie eine Option für sie gewesen. Sie war eine Kämpferin, oder nicht? Ein Geräusch ließ sie innehalten und lauschen. Schnell sprang sie von der Kiste und duckte sich in den Schatten der Rettungsboote. Mit angehaltenem Atem horchte sie ins Dunkel. Vielleicht drehte ein Matrose seine Runden. Oder einer der Passagiere aus dem Unterdeck nutzte die Einsamkeit der Nacht, um Luft zu schnappen.
Fräulein Dieseldorf hatte sie vor ihnen gewarnt. Sie hatte Margarete verboten, abends hier allein zu sein.
»Denk an die Auswanderer. Schmutzige Menschen, die was weiß ich für Krankheiten mit sich tragen. Oder dich ausrauben werden.«
Margarete glaubte nicht daran, dass ihr einer der ärmeren Menschen übelwollte, aber sie wollte auch niemandem begegnen. Nicht heute Nacht. Heute wollte sie allein sein. Allein mit sich und der Entscheidung, die sie zu treffen hatte. Sie drückte sich hinter das Rettungsboot und blieb mit ihrem Kleid an einem Haken hängen. Hastig zog sie am Rock, bis sie das Kleid mit einem Ratsch losriss. Sie hätte besser etwas Unauffälligeres anziehen sollen. Das Weiß des edlen Stoffs leuchtete durch die Dunkelheit wie ein Fanal und würde jedem Menschen, der sich näherte, ihren Aufenthaltsort verraten. Leise atmete sie aus, schloss die Augen undkonzentrierte sich auf die Geräusche der Nacht. Nur das Pfeifen des Windes und das leise Plätschern der Wellen waren zu hören. Margarete steckte ihren Kopf hervor und kniff die Augen leicht zusammen, um etwas im Dunkel erkennen zu können.
Nichts war zu sehen, ihr schlechtes Gewissen hatte ihr wohl einen Streich gespielt. Ein wenig tat es ihr leid um Fräulein Dieseldorf. Die Gouvernante würde sicher Ärger bekommen, weil Margarete ihr entwischt war und sich in die Wellen gestürzt hatte. Ihr Vater würde das Fräulein entlassen und sie mit Vorwürfen überschütten. Margarete biss sich wieder auf die Unterlippe. Auch wenn sie ihre Gouvernante nicht besonders mochte, wollte sie ihr nicht unbedingt mehr Ärger bereiten als notwendig. Sollte sie ihren Plan aufgeben und erst zu Hause eine Gelegenheit suchen, aus dem Leben zu scheiden?
Nein! Bestimmt hatte Fräulein Dieseldorf ihre Finger im Spiel oder wenigstens von den Plänen ihres Vaters gewusst. Margarete erwartete wenig Gutes von dem Fräulein, die sich für ihre Arbeit zu fein hielt und sichtlich bedauerte, sich um so ein schwieriges Mädchen wie Margarete kümmern zu müssen. Jedenfalls sagte sie das oft genug. Dem Fräulein wäre es nur recht, wenn Margarete ebenfalls ein Leben im Unglück führen müsste.
Und was wäre mit ihrer Familie? Großmama würde sich sicher Vorwürfe machen, aber … Warum hatte Großmama sich nicht auf ihre Seite gestellt? Margarete sah die alte Dame vor sich. Die grauen Haare zu einer strengen Frisur aufgesteckt, das Kreuz durchgedrückt – sie wirkte wie eine harsche Frau. Wie sehr der Eindruck täuschte. Niemand war so voller Verständnis und Liebe wie ihre Großmutter. Jedenfalls hatte sie das immer geglaubt.
Margarete spürte einen Kloß im Hals und kämpfte gegen die Tränen an. Nicht heute Abend.
Wie konnte ihr Vater ihr das nur antun? Er hatte ihr doch fast jeden Wunsch erfüllt. Es erschien ihr unvorstellbar, dass er in so einer
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