Im Land der Kaffeeblüten (German Edition)
Tagebücher, ein, zwei Reiseberichte aus der Zeit, ihre Firmengeschichte und mit wenig Aufwand hätten sie eine gute Arbeit geschrieben. »Mist.«
»Wo liegt das Problem?« Isabell schaute Julia mit schiefem Lächeln an.
»Na, ich kann Kurrentschrift jedenfalls nicht lesen. Du etwa?«
»Klar.«
»Was?« Julia starrte Isabell an, als ob die eben behauptet hätte, übers Wasser gehen zu können. »Wieso kannst du so etwas?«
»Habe ich in Guatemala in der Schule gelernt.« Isabell zuckte mit den Schultern, als ob das nichts Besonderes wäre. »Wir haben ein Geschichtsprojekt zum Deutschen Club in Cobán gemacht und dafür sollte man Kurrentschrift können.«
»Du siehst mich beeindruckt.« Julia grinste.
»Wenn ich geahnt hätte, dass das so einfach ist …« Isabell zwinkerte ihr zu. »Aber sollten wir nicht erst mal die Fakten recherchieren, bevor wir auf die Tagebücher zurückgreifen?«
»Jemand hat mir erzählt, die Haberkorn steht auf ›erlebte Geschichte‹.« Julia zeichnete Anführungszeichen in die Luft. »Wie wär’s? Du kommst diese Woche noch zu mir und wir suchen nach Informationen zu meiner Ururgroßmutter Margarete.«
»Klingt gut.« Isabell überlegte kurz. »Ja, warum nicht. Hat deine Ururgroßmutter auch Tagebuch geführt?«
»Keine Ahnung.« Julia zuckte mit den Schultern. »Aberwir haben eine Firmenchronik zum hundertjährigen Jubiläum erstellt. Mit Fotos und Texten aus dem Archiv. Da lässt sich bestimmt auch einiges finden.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Wir brauchen ja nur mal zu gucken.« Julia hob die Hände. »Wenn sich nichts ergibt, konzentrieren wir uns auf das Forschungsprojekt der Uni.«
»Okay.« Isabell öffnete das Tagebuch. »Bist du gar nicht neugierig?«
»Doch schon. Wäre es okay, wenn du vorliest und ich Stichworte mitschreibe?« Julia klappte ihr iPad auf. »Viel mehr als deine Sekretärin zu spielen, kann ich im Moment nicht beisteuern.«
»Oh, das habe ich mir immer gewünscht.« Isabell grinste. »Fräulein Julia, zum Diktat bitte.«
10 An Bord der »San Nicolas« auf dem Weg nach Guatemala 1902
Elise lag mit geöffneten Augen auf der schmalen Pritsche und lauschte ins Dunkel der Kajüte. Sie hatte sich den Schlafplatz erkämpfen müssen. Ihre Eltern wollten die Überfahrt unter Deck verbringen, dort, wo die zumeist armen Auswanderer eingepfercht waren. Nicht weil ihre Familie arm war. Nein, ihre Eltern wollten das Geld sparen, um es für weitere Expeditionen in weitere furchtbare Länder auszugeben. Bei dem Gedanken, dass sie sich auf einem Schiff unterhalb der Wasserlinie befinden würde, hatte Elises Herz begonnen zu rasen. Sie hatte nach Luft gerungen, als ob sie bereits ertränke. Da hatten ihre Eltern nachgegeben und ihr die Kajüte zugestanden. Nun allerdings fühlte sie sich allein und wünschte sich, in diesen kalten einsamen Nächten bei ihnen zu sein.
Sie stieß ein Schnauben aus. Bei ihren Eltern. Menschen, die sie kaum kannte. Fremde, die sie aus dem sicheren Bremen auf dieses Schiff verschleppt hatten, ohne nach ihren Wünschen zu fragen. Tränen traten ihr in die Augen und sie schniefte. Wie es wohl ihren Großeltern erging, allein in dem schönen Haus. Ob sie Elises Zimmer wohl für sie hergerichtet ließen?
Der Gedanke an all das, was sie aufgegeben hatte, brachte sie zum Weinen. Sie tastete nach dem Leinentaschentuch, das sie neben das schmale Kopfkissen gelegt hatte. Wohlwissend, dass sie es auf dieser Reise sicher des Öfteren benötigen würde. Dann schnäuzte sie sich und richtete sich etwas auf.
Durch die schmale runde Öffnung des Bullauges konnte sie einzelne Sternbilder am Nachthimmel erkennen. Immerhin etwas, das sie an ihre Heimat erinnerte. Die Sterne leuchteten überall gleich. Wie oft hatte sie mit ihrem Großvater in seinem Arbeitszimmer gesessen und durch den Kometensucher den Himmel beobachtet.
»Wenn du dich einsam fühlst, sieh dir die Sterne an«, hatte ihr Großpapa zum Abschied gesagt und Elise an sich gedrückt.
»Kassiopeia. Perseus. Kleiner Bär. Großer Bär. Bärenhüter«, murmelte sie vor sich hin, um ihre Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. »Cassiopeia. Perseus. Ursa minor. Ursa major. Boötes.« Die lateinischen Namen sollten sie ablenken, doch immer wieder tauchte die Panik in ihr auf und verdrängte alles andere. Klang das Grollen der Dampfmaschine nicht unregelmäßig? Ging es nicht in ein schrilles Pfeifen über, ein sicheres Anzeichen für eine Überhitzung, die zu einer
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