Im Land der Kaffeeblüten (German Edition)
schlanken Finger. »Du warst so klein und …«
Elise holte tief Luft. So lange schon quälte sie sich mit der Frage, warum ihre Eltern sie damals einfach bei ihren Großeltern zurückgelassen hatten und nur alle Jubeljahre zu Weihnachten oder zu einem Geburtstag kurz aufgetaucht und dann wieder verschwunden waren. Wie entfernte Verwandte, die man nur an hohen Festtagen zu Gesichtbekommt und an deren Namen man sich mühsam erinnert. »Warum konntet ihr mich nicht bei Großmama und Großpapa lassen? Wo ich euch doch die ersten Jahre egal war.«
»Glaube mir, Kleines, du warst uns nie egal. Aber …« Ihre Mutter schaute zu Boden, knetete die Hände, verschränkte die Finger ineinander, als ob diese ihr sonst davonlaufen würden. »Wir haben es versucht. Johann und ich. Wir beide wollten deinetwegen in Deutschland bleiben.«
»Wie bitte?« Elise hob den Kopf und starrte ihre Mutter an. Sie hatte jedes Wort verstanden, aber ihr Verstand weigerte sich, den Sinn zu begreifen. »Ihr wart in Deutschland? Wann soll das denn gewesen sein?«
»In deinem ersten Jahr. Du wirst dich nicht erinnern.« Ihre Mutter schaute sie mit einem schiefen Lächeln an. »Johann hat unsere Forschungsergebnisse an der Universität vorgestellt und ich war bei dir zu Hause. Frauen durften ja nicht an die Universität.«
Elise nickte. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, wie sehr ihre Mutter gelitten hatte. Auch wenn Elise die Wissenschaft eher langweilig fand, so sah sie mehr als deutlich, wie sehr ihre Eltern ihre Arbeit liebten.
»Nach einem Jahr standen wir vor der Wahl, in Bremen bei dir zu bleiben oder an einer Expedition teilzunehmen.« Ihre Mutter lächelte wieder, eher traurig als fröhlich. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, die sich sofort löste und ihr gleich wieder ins Gesicht fiel. »Einer großen Expedition. Gut ausgestattet. Nach Yucatán. Eine Gelegenheit, die sich nur einmal bietet.«
»Und da habt ihr euch gegen mich entschieden.« Elise schluckte. Sie hatte befürchtet, dass ihren Eltern ihre Forschungen viel, viel wichtiger waren als sie. Aber etwas zuahnen oder es aus dem Mund der eigenen Mutter zu hören, war zweierlei. »Und da habt ihr mich einfach in Bremen gelassen.«
»Nein.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf und lächelte. Bittersüß, nannte man das wohl. »Wir blieben schweren Herzens in Bremen, weil wir dich nicht verlassen wollten. Aber wir hielten es dort nicht aus. Stritten uns ständig. Keiner von uns war glücklich.«
»Ich vielleicht«, flüsterte Elise. Wie schade, dass sie sich nicht erinnern konnte. Oder vielleicht doch. Als Kind hatte sie ein Schlafied besonders geliebt. »Hast du … hast du mir ein Lied vorgesungen?«
Sie summte eine Melodie, weil sie sich an die Worte nicht mehr erinnerte. Aber jedes Mal, wenn sie die Melodie sang, fühlte sie sich sicher und beschützt. Ihre Großmutter hatte das Lied nicht gekannt und Elise hatte lange Zeit nicht mehr daran gedacht.
»Gute Nacht, gute Nacht, mein feines Lieb.
Gute Nacht, schlaf wohl mein Kind.
Gute Nacht, gute Nacht, mein feines Lieb.
Gute Nacht, schlaf wohl mein Kind.
Dass dich die Engel hüten all,
die in dem schönen Himmel sind.
Gute Nacht, gute Nacht, mein feines Lieb,
schlaf wohl in Nächten lind.«
Hennis kräftige Stimme klang durch die drückende Luft des Regenwalds und übertönte alle anderen Geräusche. Elise schloss die Augen und lauschte. Sie nickte und öffnete die Augen.
»Du erinnerst dich?«
Ihre Mutter wollte sie in die Arme schließen, doch Elise wollte erst die ganze Geschichte hören. Schließlich hatten ihre Eltern lange genug geschwiegen.
»Dein Vater und ich haben verzweifelt nach einer Lösung gesucht, aber wir konnten in Deutschland nicht leben. Und mitnehmen konnten wir dich auch nicht. Du warst so zart, hast viel gekränkelt. Und deine Großeltern waren überglücklich, dich aufziehen zu dürfen.«
»Wie schön, dass alle zufrieden waren … Und ich zu klein, um mich nach meiner Meinung zu fragen.« Elise spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Warum hatten sich weder ihre Großeltern noch ihre Eltern überlegt, ob es dem Kind gefiel, zurückgelassen zu werden? »Und warum habt ihr mich jetzt nicht in Bremen gelassen?«
Wieder spürte sie Tränen in sich aufsteigen und sie schniefte. Nur zu genau erinnerte sie sich, als ihre Großmutter ihr mit bleichem Gesicht entgegengekommen war.
»Deine Eltern sind da.« Großmama hatte versucht zu lächeln, aber Elise kannte sie gut genug, um
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