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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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oder zwei Monate als Materialjäger gearbeitet, obwohl ich das nur schätzen kann. Eines Tages durchstreifte ich die Außenbezirke der fünften Zensuszone, in der Gegend des früheren Filament Square, als ich eine große Frau mittleren Alters einen Einkaufswagen über das Pflaster schieben sah; langsam und unbeholfen holperte sie voran, mit den Gedanken offensichtlich ganz woanders. Die Sonne schien hell an diesem Tag, es war die Art von Sonnenschein, die einen blendet und vieles unsichtbar macht, und die Luft war warm, das weiß ich noch, sehr warm, dass einem fast schwindlig wurde. Gerade als es der Frau gelungen war, die Karre auf die Straßenmitte zu bringen, kam eine Horde von Rennern um die Ecke gestürmt. Es waren etwa zwölf bis fünfzehn, und sie rannten, dicht zusammengedrängt, in vollem Tempo und kreischten ihre ekstatische Todeslitanei. Ich sah die Frau zu ihnen aufblicken, als sei sie jäh aus ihrem Träumereien gerissen, doch anstatt sich zu trollen, blieb sie stehen wie ein vor Schreck erstarrtes Reh im Scheinwerferlicht. Aus irgendeinem Grund, und noch heute weiß ich nicht warum, löste ich die Nabelschnur von meiner Hüfte, jagte los, packte die Frau mit meinen beiden Armen und schleifte sie, Sekunden bevor die Renner vorbeifegten, aus dem Weg. Ganz schön knapp. Wenn ich es nicht getan hätte, wäre sie wahrscheinlich zu Tode getrampelt worden.
    So habe ich Isabel kennengelernt. Wie man es auch sehen mag, fest steht, dass erst in diesem Augenblick mein eigentliches Leben in der Stadt begann. Alles andere war ein Vorspiel, eine Unmenge schwankender Schritte, Tage und Nächte und Gedanken, an die ich mich nicht erinnere. Ohne diesen einen irrationalen Augenblick auf der Straße wäre die Geschichte, die ich dir erzähle, eine andere. Und denke ich an meine damalige Verfassung, kommen mir Zweifel, ob es überhaupt eine Geschichte gegeben hätte.
    Noch immer aneinandergeklammert, lagen wir schwer atmend im Rinnstein. Als der letzte Renner um die Ecke verschwand, schien Isabel allmählich zu begreifen, was ihr widerfahren war. Sie setzte sich auf, blickte sich um, sah mich an und begann ganz langsam zu weinen. Es war ein fürchterliches Erwachen. Nicht weil sie um Haaresbreite getötet worden wäre, sondern weil sie nicht mehr gewusst hatte, wo sie war. Sie tat mir leid, machte mir aber auch ein wenig Angst. Wer war diese dünne, zitternde Frau mit dem langen Gesicht und den tiefliegenden Augen – und wieso lag ich ausgestreckt neben ihr auf der Straße? Sie schien halb von Sinnen, und nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, drängte es mich zunächst, wegzulaufen.
    «Ach, mein liebes Kind», sagte sie und griff zögernd nach meinem Gesicht. «Ach, mein liebes kleines Herzenskind, du hast dich blutig geschlagen. Eilst einer alten Frau zu Hilfe, und dann verletzt du dich. Weißt du, warum das so ist? Weil ich Unglück bringe. Jeder weiß das, aber keiner bringt es übers Herz, es mir zu sagen. Aber ich weiß es. Ich weiß alles, auch wenn es mir niemand sagt.»
    Bei unserem Sturz hatte ich mir an einem der Steine eine Schramme geholt; aus meiner linken Schläfe rieselte Blut. Aber es war nichts Ernstes, kein Grund zur Panik. Ich wollte schon Adieu sagen und davongehen, als mir der Gedanke, sie zu verlassen, einen leisen Stich versetzte. Vielleicht sollte ich sie nach Hause bringen, dachte ich, damit ihr nicht noch mehr zustößt. Ich half ihr auf die Beine und holte den Einkaufswagen von der anderen Seite des Platzes.
    «Ferdinand wird mich zusammenstauchen», sagte sie. «Das ist jetzt der dritte Tag hintereinander, dass ich mit leeren Händen zurückkomme. Noch ein paar solcher Tage, und es ist aus mit uns.»
    «Ich finde, Sie sollten trotzdem nach Hause gehen», sagte ich. «Wenigstens fürs Erste. Sie sind nicht in der Verfassung, jetzt diesen Wagen durch die Gegend zu schieben.»
    «Aber Ferdinand. Der dreht durch, wenn er sieht, dass ich nichts mitbringe.»
    «Keine Sorge», sagte ich. «Ich werde ihm erklären, was geschehen ist.»
    Ich hatte natürlich keine Ahnung, wovon ich da redete, aber irgendetwas, das sich meiner Kontrolle entzog, hatte mich gepackt: ein plötzlicher Anfall von Mitgefühl, ein törichtes Bedürfnis, mich um diese Frau zu kümmern. Vielleicht ist ja doch etwas an diesen alten Geschichten von Leuten, die einem anderen das Leben retten. Ist es einmal geschehen, heißt es, ist man für diese Person verantwortlich, und ob es dir gefällt oder nicht, du und der andere

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