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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sechs Monaten sei ihr diese Begabung abhandengekommen. Sie sei ausgelaugt, zu erschöpft, um lange genug auf den Beinen bleiben zu können, und ihre Gedanken schweiften ständig von der Arbeit ab. Nahezu täglich müsse sie feststellen, dass sie durch Straßen gehe, die sie nicht wiedererkenne, dass sie um Ecken biege, ohne zu wissen, wo sie kurz vorher gewesen sei, dass sie irgendeinen Bezirk betrete und sich ganz woanders wähne. «Es war ein Wunder, dass du zufällig gerade da warst», sagte sie, als wir uns in einem Hauseingang ausruhten. «Aber ein Zufall war es nicht. Ich habe jetzt so lange zu Gott gebetet, dass er mir endlich einen Retter geschickt hat. Ich weiß, die Leute reden nicht mehr von Gott, aber ich kann nicht anders. Ich denke jeden Tag an ihn, ich bete zu ihm in der Nacht, wenn Ferdinand schläft, und in meinem Herzen spreche ich immerzu mit ihm. Jetzt wo Ferdinand überhaupt nicht mehr mit mir redet, ist Gott mein einziger Freund, der einzige, der mir noch zuhört. Ich weiß, er ist sehr beschäftigt und hat keine Zeit für eine alte Frau wie mich, aber Gott ist ein feiner Mensch, und er wacht über mich. Heute hat er mir endlich einen Besuch abgestattet. Als Zeichen seiner Liebe hat er dich zu mir geschickt. Du bist das liebe Herzenskind, das Gott mir gesandt hat, und fortan werde ich für dich sorgen und alles für dich tun, was ich kann. Du brauchst nicht mehr im Freien zu schlafen, nicht mehr von morgens bis abends durch die Straßen zu ziehen, keine schlimmen Träume mehr zu haben. Damit ist jetzt Schluss, ich versprech’s dir. Solange ich lebe, wirst du einen Platz zum Leben haben, und es ist mir gleich, was Ferdinand dazu sagt. Von nun an wirst du ein Dach überm Kopf und zu essen haben. Auf diese Weise will ich Gott danken für das, was er getan hat. Er hat meine Gebete erhört, und jetzt bist du mein liebes kleines Herzenskind, meine liebe Anna, die Gott mir geschickt hat.»

Ihr Haus war an der Circus Lane, mitten in einem Gewirr von kleinen Gassen und Trampelpfaden im Zentrum der zweiten Zensuszone, dem ältesten Teil der Stadt, in dem ich erst ein- oder zweimal gewesen war. Für Plünderer war dieses Gebiet wenig ertragreich, und ich hatte immer Angst gehabt, mich in diesem Straßenlabyrinth zu verirren. Die meisten Häuser waren Holzbauten, was zahlreiche kuriose Auswirkungen nach sich zog. Die üblichen staubigen Schutthaufen aus verwitternden Ziegeln und zerbröckelnden Steinen fehlten hier; dafür standen die Häuser allesamt krumm und schief, schienen unter ihrem eigenen Gewicht einzusinken und sich langsam in den Boden zu verkriechen. Während die anderen Gebäude sich irgendwie in ihre Bestandteile auflösten, verkümmerten diese hier wie alte Menschen, die ihre Kraft verloren haben, wie Gichtkranke, die sich nicht mehr aufrecht halten können. Viele Dächer waren eingefallen, die Schindeln waren so morsch wie Schwämme, und hier und da sah man ganze Häuser sich in entgegengesetzte Richtungen neigen wie riesige, windschiefe Parallelogramme – dermaßen aus dem Leim gegangen, dass ein Fingerdruck, ein leises Anhauchen sie zum Einsturz gebracht haben würde.
    Das Gebäude, in dem Isabel wohnte, war jedoch aus Ziegelsteinen erbaut. Es hatte sechs Stockwerke mit jeweils vier kleinen Wohnungen, ein dunkles Stiegenhaus mit ausgetretenen, wackligen Treppen, von dessen Wänden die Farbe abblätterte. Ameisen und Kakerlaken streiften unbelästigt umher, und das ganze Haus stank nach vergammeltem Essen, ungewaschenen Kleidern und Staub. Aber das Gebäude selbst machte einen ziemlich stabilen Eindruck, und ich konnte mir zu meinem Glück nur gratulieren. Bedenke, wie schnell sich die Dinge für uns verändern. Hätte jemand mir vorher gesagt, dass ich hier einmal landen würde, würde ich es nicht geglaubt haben. Aber jetzt war ich so selig, als wäre mir ein großartiges Geschenk zuteil geworden. Elend und Luxus sind schließlich relative Begriffe. Kaum drei oder vier Monate nach meiner Ankunft in der Stadt war ich bereit, dieses neue Heim ohne das leiseste Schaudern zu akzeptieren.
    Ferdinand machte nicht viel Geschrei, als Isabel ihm verkündete, dass ich bei ihnen einziehen würde. Ich finde, sie ist taktisch ganz richtig vorgegangen. Sie bat ihn nicht um seine Einwilligung, mich dort wohnen zu lassen, sondern teilte ihm einfach mit, die Zahl der Haushaltsmitglieder habe sich von zwei auf drei erhöht. Da Ferdinand alle praktischen Entscheidungen schon vor langem seiner Frau

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