Im Land der letzten Dinge (German Edition)
gehören dann für immer zusammen.
Wir brauchten fast drei Stunden, um zu ihrem Haus zurückzukommen. Unter normalen Umständen hätte es nur halb so lange gedauert, aber Isabel kam so langsam voran, ging mit so schwankenden Schritten, dass die Sonne bereits unterging, als wir endlich ankamen. Sie hatte keine Nabelschnur bei sich (sie hatte ihre vor ein paar Tagen verloren, erzählte sie), und immer wieder glitt ihr die Karre aus den Händen und polterte die Straße hinunter. Einmal wurde sie ihr beinahe von jemandem entrissen. Danach beschloss ich, eine Hand auf ihrem und eine auf meinem Wagen zu behalten, was unser Fortkommen noch weiter verlangsamte. Wir zogen durch das Randgebiet der sechsten Zensuszone, umgingen die Zollbarrikaden auf der Memory Avenue und schlurften dann durch den Verwaltungssektor an der Pyramid Road, wo die Polizei jetzt ihre Kasernen hat. Isabel erzählte mir auf ihre weitschweifige, zusammenhanglose Art einiges aus ihrem Leben. Ihr Mann sei früher Reklametafelmaler gewesen, sagte sie, aber da so viele Geschäfte zugemacht hätten oder die Kosten nicht mehr tragen könnten, habe Ferdinand nun schon seit mehreren Jahren keine Arbeit mehr. Eine Zeitlang habe er zu viel getrunken – nachts aus Isabels Handtasche Geld für seine Zechtouren gestohlen oder sich um die Destillerie in der vierten Zensuszone herumgetrieben und bei den Arbeitern Glots abgestaubt, indem er ihnen etwas vortanzte und komische Geschichten erzählte –, bis er eines Tages zusammengeschlagen wurde und keinen Fuß mehr vor die Tür setzte. Und jetzt rührte er sich nicht mehr, saß Tag für Tag in der kleinen Wohnung, sprach kaum ein Wort und kümmerte sich kein bisschen um ihr Überleben. Praktische Dinge überließ er Isabel, da er solche Details nicht mehr für seiner Aufmerksamkeit wert erachtete. Er interessierte sich jetzt nur noch für sein Hobby: Miniaturschiffe bauen und in Flaschen stecken.
«Sie sind so schön», sagte Isabel, «dass man ihm sein Verhalten dafür fast verzeihen möchte. So schöne kleine Schiffe, so perfekt und winzig. Am liebsten würde man auf die Größe einer Stecknadel schrumpfen und dann an Bord klettern und fortsegeln …»
«Ferdinand ist ein Künstler», fuhr sie fort, «und er war schon früher ein launischer, unberechenbarer Mensch. Einmal oben, einmal unten, immer von irgendeiner Sache umgetrieben. Aber du hättest die Schilder sehen sollen, die er gemalt hat! Jeder wollte Ferdinand engagieren, und er hat für alle möglichen Läden gearbeitet. Drogerien, Lebensmittelgeschäfte, Tabakhändler, Juweliere, Wirtshäuser, Buchhandlungen, alles. Er hatte damals eine eigene Werkstatt, mitten im Kaufhausbezirk in der Innenstadt, ein reizendes kleines Atelier. Aber das gibt es jetzt alles nicht mehr: die Sägen, die Pinsel, die Farbeimer, die Gerüche von Sägemehl und Firnis. All das ist der zweiten Säuberung der achten Zensuszone zum Opfer gefallen, und damit war’s aus und vorbei.»
Ich verstand kaum die Hälfte von dem, was Isabel mir erzählte. Aber aus dem, was ich heraushörte und mir aus den Bruchstücken zusammenreimte, schloss ich, dass sie drei oder vier Kinder gehabt hatte, die alle entweder tot oder von zu Hause weggelaufen waren. Nachdem Ferdinand seine Arbeit verloren hatte, war Isabel unter die Plünderer gegangen. Von einer Frau ihres Alters würde man erwarten, dass sie als Müllsammler angeheuert hätte, aber seltsamerweise entschied sie sich für die Materialjagd. Eine schlechtere Wahl hätte sie meiner Meinung nach nicht treffen können. Sie war weder schnell noch clever noch ausdauernd. Ja, sagte sie, das sei ihr durchaus klar, aber sie habe ihre Schwächen durch gewisse andere Qualitäten wettgemacht – einen eigenartigen Riecher, auf den sie sich verlassen könne, einen Instinkt, an vernachlässigten Orten Dinge aufzuspüren, einen inneren Magneten, der sie irgendwie zu den richtigen Stellen hinziehe. Sie konnte das selbst nicht erklären, aber Tatsache war, dass ihr einige verblüffende Funde gelungen waren: ein ganzer Koffer voll Spitzenunterwäsche, von dem sie und Ferdinand fast einen Monat lang hatten leben können, ein völlig intaktes Saxophon, ein verschlossener Karton mit fabrikneuen Ledergürteln (also offenbar direkt vom Hersteller, obwohl die letzte Gürtelmanufaktur vor über fünf Jahren zugemacht hatte) und ein Altes Testament auf Reispapier mit Goldschnitt und Kalbsledereinband. Aber das sei schon länger her, sagte sie, und in den letzten
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