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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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er immer noch irgendwo anders sein. Das Land ist riesengroß, musst du wissen, und er kann sich wer weiß wohin abgesetzt haben. Jenseits der Landwirtschaftszone im Westen soll sich ein mehrere hundert Meilen breiter Wüstenstreifen erstrecken. Dahinter jedoch, so heißt es, befinden sich andere Städte, Gebirgsketten, Bergwerke und Fabriken, unermessliche Gebiete, die sich bis zu einem zweiten Ozean hinziehen sollen. Vielleicht stimmt ja etwas an diesem Gerede. Falls ja, könnte William durchaus sein Glück irgendwo da draußen versucht haben. Nein, ich vergesse nicht, wie schwierig es ist, die Stadt zu verlassen, aber wir beide kennen William doch. Wenn er die kleinste Chance gesehen hätte, hier herauszukommen, würde er sie genutzt haben.
    Ich habe dir das nie erzählt, aber in meiner letzten Woche zu Hause habe ich mit dem Herausgeber von Williams Zeitung gesprochen. Das muss drei oder vier Tage, bevor ich dir Lebewohl sagte, gewesen sein, und ich habe es deswegen nicht erwähnt, weil ich keinen Streit mehr mit dir heraufbeschwören wollte. Es war so schon schlimm genug, und es hätte nur unsere letzten gemeinsamen Augenblicke verdorben. Sei mir bitte jetzt nicht böse. Das könnte ich nicht ertragen.
    Der Herausgeber hieß Bogat – ein dickbäuchiger Glatzkopf mit altmodischen Hosenträgern und einer Uhr in der Hosentasche. Er erinnerte mich an meinen Großvater: Er war überarbeitet, leckte an den Spitzen seiner Bleistifte, bevor er schrieb, und strahlte ein zerstreutes Wohlwollen aus, das etwas Verschlagenes an sich hatte, etwas Leutseliges, hinter dem eine verborgene Grausamkeit lauerte. Ich wartete fast eine Stunde im Empfangszimmer. Als er endlich bereit war, mich zu empfangen, führte er mich beim Ellbogen in sein Büro, ließ mich auf seinem Stuhl Platz nehmen und hörte sich meine Geschichte an. Ich muss fünf bis zehn Minuten lang gesprochen haben, ehe er mich unterbrach. William habe seit über neun Monaten keinen Bericht mehr geschickt, sagte er. Ja, er wisse, dass die Maschinen in der Stadt kaputt seien, aber das habe nichts damit zu tun. Einem guten Reporter gelinge es immer, seine Story zu übermitteln – und William sei sein bester Mann gewesen. Eine neunmonatige Funkstille könne nur eins bedeuten: William sei in Schwierigkeiten geraten, und er käme nie zurück. Ganz unverblümt, kein Reden um den heißen Brei. Ich zuckte die Achseln und sagte, das seien doch nur Mutmaßungen.
    «Tun Sie es nicht, Mädchen», sagte er. «Es wäre verrückt, dorthin zu fahren.»
    «Ich bin kein Mädchen», sagte ich. «Ich bin neunzehn Jahre alt, und ich kann besser auf mich aufpassen, als Sie denken.»
    «Und wenn Sie hundert Jahre alt wären. Niemand kommt dort raus. Da ist die gottverdammte Welt zu Ende.»
    Ich wusste, dass er recht hatte. Aber ich hatte mich entschieden, und nichts sollte mich von meinem Entschluss abbringen. Angesichts meiner Hartnäckigkeit begann Bogat seine Taktik zu ändern.
    «Sehen Sie», sagte er, «vor über einem Monat habe ich einen weiteren Mann hingeschickt. Ich werde wohl bald von ihm hören. Warum nicht noch so lange warten? Vielleicht bekommen Sie all Ihre Antworten, ohne selbst dorthin reisen zu müssen.»
    «Was hat das mit meinem Bruder zu tun?»
    «William ist auch Teil der Story. Wenn dieser Reporter etwas taugt, findet er heraus, was ihm zugestoßen ist.»
    Aber so was zog bei mir nicht, und Bogat wusste es. Entschlossen, mir seine süffisante Bevormunderei nicht gefallen zu lassen, ließ ich nicht locker, und allmählich schien er aufzugeben. Ohne dass ich darum gebeten hätte, nannte er mir den Namen dieses neuen Reporters, öffnete dann als letzte Geste die Schublade eines Aktenschranks hinter seinem Schreibtisch und zog die Fotografie eines jungen Mannes heraus.
    «Die sollten Sie vielleicht mitnehmen», sagte er und warf sie auf seinen Schreibtisch. «Für alle Fälle.»
    Es war ein Bild des Reporters. Ich warf einen kurzen Blick darauf und steckte es dann ihm zu Gefallen in die Tasche. Damit war unser Gespräch beendet. Das Treffen war unentschieden ausgegangen, keiner hatte dem anderen nachgegeben. Ich glaube, Bogat war zugleich wütend und ein bisschen beeindruckt.
    «Aber denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe», sagte er.
    «Ich werde es nicht vergessen», gab ich zurück. «Wenn ich William zurückgeholt habe, komme ich wieder zu Ihnen und erinnere Sie an dieses Gespräch.»
    Bogat wollte wohl noch etwas sagen, aber dann schien er es sich anders zu

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