Im Land der letzten Dinge (German Edition)
überlegen. Er stieß einen Seufzer aus, schlug leicht mit den Handflächen auf seinen Schreibtisch und erhob sich von seinem Stuhl. «Verstehen Sie mich nicht falsch», sagte er. «Ich bin auf Ihrer Seite. Ich glaube bloß, dass Sie einen Fehler machen. Das ist ein großer Unterschied.»
«Mag sein. Trotzdem ist es falsch, gar nichts zu tun. Man muss den Leuten Zeit lassen, und sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor Sie nicht wissen, wovon sie überhaupt reden.»
«Das ist ja das Problem», sagte Bogat. «Ich weiß genau, wovon ich rede.»
Ich glaube, an dieser Stelle schüttelten wir uns die Hand, vielleicht starrten wir uns auch nur über den Schreibtisch hinweg an. Jedenfalls begleitete er mich dann durch die Druckerei zu den Aufzügen im Korridor. Dort warteten wir schweigend, ohne uns auch nur anzusehen. Bogat wippte auf seinen Absätzen und summte tonlos vor sich hin. Offenbar war er mit seinen Gedanken schon ganz woanders. Als die Tür aufglitt und ich in den Aufzug trat, sagte er müde: «Amüsieren Sie sich schön, Mädchen.» Ehe ich ihm antworten konnte, schloss sich die Tür, und ich war auf dem Weg nach unten.
Am Ende war dieses Foto von entscheidender Bedeutung. Ich hatte nicht einmal vorgehabt, es mitzunehmen, aber dann, als folgte ich einer Eingebung, packte ich es in letzter Minute doch noch mit ein. Da wusste ich natürlich noch nicht, dass William verschwunden war. Ich hatte erwartet, in der Redaktion seinen Vertreter anzutreffen und von dort aus mit meinen Nachforschungen beginnen zu können. Aber nichts ging nach Plan. Als ich in die dritte Zensuszone kam und sah, was dort geschehen war, wurde mir klar, dass mir plötzlich nur noch dieses Bild blieb. Es war meine letzte Verbindung zu William.
Der Mann hieß Samuel Farr, ansonsten wusste ich nichts von ihm. Ich hatte mich Bogat gegenüber zu arrogant aufgespielt, um nach irgendwelchen Einzelheiten zu fragen, und jetzt besaß ich herzlich wenig Weiterführendes. Ein Name und ein Gesicht, das war alles. Mit der richtigen Einstellung und Bescheidenheit hätte ich mir eine ganze Menge Ärger sparen können. Schließlich habe ich Sam dann tatsächlich getroffen, aber das hatte nichts mit mir zu tun. Es war reiner Zufall, einer dieser Glückstaler, die einem vom Himmel zufallen. Und bevor das geschah, verging eine lange Zeit, die ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen möchte.
Die ersten Tage waren die schwierigsten. Ich lief herum wie eine Schlafwandlerin, wusste nicht, wo ich war, und wagte nicht einmal, jemanden anzusprechen. Dann verkaufte ich irgendwann meine Taschen an einen Auferstehungsagenten, so dass ich mich für eine ganze Weile mit Nahrungsmitteln versorgen konnte, aber selbst nachdem ich als Plünderer zu arbeiten begonnen hatte, besaß ich noch kein Dach überm Kopf. Ich schlief bei jedem Wetter im Freien, musste mir jede Nacht einen anderen Platz zum Schlafen suchen. Weiß der Himmel, wie lange das so ging, aber diese Zeit war zweifellos die schlimmste, und keine andere hat mich so fertiggemacht. Mindestens zwei oder drei Wochen, vielleicht aber auch mehrere Monate. Es ging mir so erbärmlich, dass mein Verstand offenbar ausgesetzt hat. Ich stumpfte innerlich ab, war nur noch Instinkt und Selbstsucht. Schreckliche Dinge sind mir da zugestoßen, und ich weiß heute noch nicht, wie ich das alles überlebt habe. An der Ecke Dictionary Place und Muldoon Boulevard wurde ich beinahe von einem Zöllner vergewaltigt. Einem alten Mann, der mich eines Nachts im Vorraum des ehemaligen Hypnose-Hörsaals auszurauben versuchte, stahl ich das Essen – ich riss ihm einfach den Haferbrei aus den Händen, ohne die geringsten Gewissensbisse. Ich hatte keine Freunde, niemanden, mit dem ich reden konnte, niemanden, der eine Mahlzeit mit mir teilte. Ich glaube, ohne das Bild von Sam hätte ich nicht durchgehalten. Nur die Gewissheit, dass er in der Stadt war, gab mir etwas, auf das ich hoffen konnte. Dieser Mann wird dir helfen, redete ich mir ständig ein, und hast du ihn einmal gefunden, wird alles ganz anders werden. Ich muss das Foto hundertmal am Tag aus meiner Tasche gezogen haben. Nach einer Weile war es so wellig und zerknittert, dass man das Gesicht kaum noch erkennen konnte. Aber da kannte ich es bereits auswendig, und das Bild als solches spielte keine Rolle mehr. Ich behielt es nur noch als Talisman, als winzigen Schild zur Abwehr der Verzweiflung.
Schließlich wandte sich das Blatt. Ich hatte da wohl gerade ein
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