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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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einen Tisch, zwei Stühle – später einen dritten – und in einer Ecke, vom Rest des Zimmers durch ein fadenscheiniges Laken abgeteilt, einen Nachttopf. Ferdinand und Isabel schliefen getrennt in verschiedenen Ecken, ich selbst in der dritten. Betten gab es nicht, aber mit einer zusammengefalteten Decke als Polster unter mir war es auf dem Boden nicht unbequem. Verglichen mit den Monaten, die ich im Freien verbracht hatte, war es der reinste Luxus.
    Meine Anwesenheit erleichterte Isabel das Leben, und vorübergehend schien sie wieder ein wenig zu Kräften zu kommen. Sie hatte die ganze Arbeit allein erledigt – die Materialjagd auf den Straßen, die Gänge zu den Auferstehungsagenten, die Nahrungsmittelkäufe auf dem städtischen Markt, das Essenkochen zu Hause, das morgendliche Ausleeren der Exkremente –, und jetzt hatte sie wenigstens jemanden, der die Last mit ihr teilte. In den ersten Wochen machten wir alles gemeinsam. Zurückblickend möchte ich meinen, dass dies unsere besten Tage waren: wir beide vor Sonnenaufgang draußen auf der Straße, wie wir durch die stille Dämmerung zogen, die menschenleeren Gassen, die breiten Boulevards. Es war Frühling, Ende April, glaube ich, und das Wetter war trügerisch schön, so schön, dass man das Gefühl hatte, es würde niemals mehr regnen, und Kälte und Wind hätten sich für immer verzogen. Wir nahmen nur einen Wagen mit, den anderen ließen wir im Haus, und ich schob ihn langsam, in Isabels Tempo, vor mir her, wartete, bis sie sich orientiert und unsere Aussichten abgeschätzt hatte. Es stimmte alles, was sie von sich erzählt hatte. Sie besaß eine außerordentliche Begabung für diese Arbeit, und selbst in ihrem geschwächten Zustand war sie so gut wie jeder andere, dem ich je zugesehen hatte. Manchmal kam sie mir wie eine Dämonin vor, wie eine ausgemachte Hexe, die mit Zauberkräften Dinge aufspürte. Ich bat sie immer wieder, mir zu erklären, wie sie das machte, aber viel wusste sie dazu nicht zu sagen. Sie blieb dann stehen, dachte ernsthaft einige Augenblicke lang nach, um schließlich irgendeine allgemeine Bemerkung von sich zu geben wie die, dass man Ausdauer haben müsse oder die Hoffnung nie aufgeben dürfe – und das in so vagen Formulierungen, dass ich überhaupt nichts damit anfangen konnte. Wenn ich schließlich doch etwas von ihr lernte, dann durch Beobachtung, nicht durch Zuhören, und das nahm ich durch eine Art Osmose in mich auf, genauso wie man eine neue Sprache lernt. Wir starteten einfach ins Blaue, streiften mehr oder weniger ziellos umher, bis Isabel eine Eingebung hatte, wo wir suchen sollten, und dann ließ ich sie zur Bewachung des Wagens zurück und trottete zu der bezeichneten Stelle. In Anbetracht des Mangels, der damals auf den Straßen herrschte, war unsere Ausbeute ganz ordentlich, jedenfalls ausreichend, um uns zu versorgen, und es war gar keine Frage, dass wir ein gutes Gespann bildeten. Nur dass wir auf der Straße kaum miteinander sprachen. Das sei gefährlich, wie Isabel mich oftmals warnte. Bloß nicht an irgendetwas denken, sagte sie. Einfach mit der Straße verschmelzen und so tun, als hätte man keinen Körper. Keine Grübeleien; weder Trauer noch Glück empfinden; nichts als die Straße, im Innern ganz leer, sich nur auf den allernächsten Schritt konzentrieren. Von allen Ratschlägen, die sie mir gab, war dies der einzige, den ich je verstanden habe.
    Trotz meiner Hilfe jedoch, und obwohl ihr nun täglich viele Meilen erspart wurden, begannen Isabels Kräfte zu schwinden. Tag für Tag fiel es ihr schwerer, im Freien zurechtzukommen, die langen Stunden auf den Beinen durchzustehen, und eines Morgens taten ihr schließlich die Füße so weh, dass sie einfach nicht mehr hochkam und ich ohne sie losziehen musste. Von diesem Tag an machte ich die ganze Arbeit allein.
    Die Tatsachen – ich will sie dir eine nach der anderen erzählen. Ich übernahm die alltäglichen Haushaltspflichten. Ich trug die Verantwortung, auf mir lastete alles. Da wirst du sicher lachen. Du weißt ja noch, wie ich es zu Hause hatte: Köchin, Dienstmagd, jeden Freitag die Wäsche sauber und gefaltet in meiner Kommode. Nie brauchte ich einen Finger zu rühren. Die ganze Welt gehörte mir, und nie habe ich das in Frage gestellt: die Klavierstunden, die Zeichenstunden, die Sommer am See auf dem Lande, die Auslandsreisen mit meinen Freunden. Und jetzt war ich ein Packesel, die einzige Stütze zweier Leute, denen ich in meinem alten Leben niemals

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