Im Land der letzten Dinge (German Edition)
begegnet wäre. Isabel mit ihrer wahnhaften Reinheit und Güte; Ferdinand, der sich ganz seinen groben, schwachsinnigen Wutanfällen überließ. Das alles war so fremd, so unwahrscheinlich. Aber die Tatsache blieb, dass Isabel mir das Leben ebenso sicher gerettet hatte wie ich ihr das ihre, und wie selbstverständlich tat ich für sie, was ich nur konnte. Aus einer kleinen Waise, die sie von der Straße geholt hatten, wurde ich zu einem Bezugspunkt, von dem Leben oder Untergang abhing. Ohne mich hätten sie keine zehn Tage überstanden. Ich will nicht mit meinen Taten prahlen, aber zum ersten Mal in meinem Leben waren Leute auf mich angewiesen, und ich habe sie nicht im Stich gelassen.
Anfangs beteuerte Isabel immer wieder, es gehe ihr gut, es fehle ihr nichts, was ein paar Tage Ruhe nicht heilen könnten. «Ehe du dich versiehst, werde ich wieder auf den Beinen sein», sagte sie jedes Mal, wenn ich morgens aufbrach. «Das ist nur eine Frage der Zeit.» Aber mit dieser Illusion war es bald vorbei. Wochen vergingen, und ihr Zustand änderte sich nicht. Mitte Frühjahr wurde uns beiden klar, dass sie sich nicht mehr erholen würde. Es war ein verhängnisvoller Tag für uns, als ich ihren Einkaufswagen und ihre Plündererlizenz an einen Schwarzhändler in der vierten Zensuszone verkaufen musste. Es war das endgültige Eingeständnis ihrer Krankheit, aber etwas anderes blieb uns nicht übrig. Der Wagen stand nur noch Tag für Tag im Haus herum, ohne irgendwem zu nützen, und zu der Zeit hatten wir das Geld bitter nötig. Der Form halber war es Isabel selbst, die schließlich den Vorschlag machte, dass ich es tun sollte, aber das bedeutete nicht, dass es ihr leichtfiel.
Danach veränderte sich unsere Beziehung ein wenig. Wir waren keine gleichrangigen Partner mehr, und da ihr die zusätzliche Last, die sie mir aufbürdete, Schuldgefühle verursachte, fing sie an, mich maßlos zu bemuttern, und wurde schier hysterisch, wenn es um mein Wohlergehen ging. Nicht lange nachdem ich begonnen hatte, allein auf Beutefang zu gehen, unternahm sie den Versuch, mein Äußeres zu verbessern. Ich sei zu hübsch für den täglichen Kontakt mit der Straße, sagte sie, da müsse etwas getan werden. «Ich ertrage es einfach nicht, dich jeden Morgen so losziehen zu sehen», erklärte sie. «Jungen Mädchen stoßen andauernd schreckliche Dinge zu, so schrecklich, dass ich gar nicht davon reden kann. Ach Anna, mein liebes Kindchen, wenn ich dich jetzt verlöre, könnte ich mir nie verzeihen, ich würde auf der Stelle sterben. Für Eitelkeit ist hier kein Platz, mein Engel – davon musst du lassen.» Isabel sprach so überzeugt, dass ihr die Tränen kamen, und ich sah ein, dass es besser wäre, ihr zuzustimmen, als einen Streit anzufangen. Ehrlich gesagt, war ich ziemlich wütend. Aber da ich selbst schon einiges von dem, wovon sie nicht reden konnte, gesehen hatte, konnte ich ihr im Grunde kaum widersprechen. Als Erstes mussten meine Haare dran glauben – eine furchtbare Sache war das. Dass ich nicht in Tränen ausbrach, war alles; und dass Isabel, während sie an mir herumschnippelte und mir Mut zusprach, die ganze Zeit zitterte und kurz davor war, in mütterlicher Untröstlichkeit aufzuschluchzen, machte das Ganze nur umso schlimmer. Ferdinand war natürlich auch dabei, saß mit verschränkten Armen in seiner Ecke und verfolgte die Szene mit grausamer Distanziertheit. Als meine Haare auf den Boden zu fallen begannen, lachte er, und während sie immer weiter fielen, sagte er, so langsam sähe ich wie eine Lesbe aus, und ob das nicht lustig sei, dass Isabel jetzt solche Sachen mache, wo ihre Möse so vertrocknet sei wie ein Stück Holz. «Höre nicht auf ihn, mein Engel», sagte Isabel mir dauernd ins Ohr, «achte nicht darauf, was dieser Unmensch da von sich gibt.» Aber wie hätte ich es nicht hören, von seinem boshaften Lachen unberührt bleiben sollen? Als Isabel endlich fertig war, reichte sie mir einen kleinen Spiegel und bat mich hineinzusehen. Die ersten Sekunden waren entsetzlich. Ich war so hässlich, dass ich mich selbst nicht mehr erkannte. Als wäre ich in eine andere verwandelt worden. Was ist mit mir geschehen? dachte ich. Wo bin ich? Genau in diesem Augenblick brach Ferdinand wieder in Gelächter aus, stieß einen wahren Schwall von Gehässigkeiten hervor, und das war zu viel für mich. Ich schleuderte den Spiegel durchs Zimmer, und fast hätte ich ihn damit im Gesicht getroffen. Er flog an seiner Schulter vorbei, knallte
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