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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Nachts hörten wir sie herumtrippeln und alles benagen, was sie an winziger Beute aufspürten. Manchmal wurde der Lärm so laut, dass wir davon aufwachten, aber die Mäuse waren schlau und ließen sich nicht so leicht erwischen. Ferdinand baute aus Maschendraht und Holz eine kleine Falle, die er allabendlich pflichtbewusst mit einem Köder bestückte. Die Falle tötete die Mäuse nicht. Wenn sie hineintappten, um das Futter zu holen, ging die Tür hinter ihnen zu, und sie waren in dem Käfig eingeschlossen. Das geschah nur ein- oder zweimal im Monat, aber wenn Ferdinand an solchen Morgen aufwachte und eine Maus darin entdeckte, drehte er fast durch vor Glückseligkeit – hüpfte um den Käfig herum, klatschte in die Hände und brach in ausgelassenes, grunzendes nasales Gelächter aus. Dann hob er die Maus am Schwanz hoch und briet sie mit großer Akribie über den Flammen des Ofens. Es war schrecklich mitanzusehen, wie die Maus ums liebe Leben zappelte und quiekte, aber Ferdinand stand einfach da, völlig vertieft in das, was er tat, murmelte vor sich hin und gackerte etwas von den Wonnen des Fleisches. Ein morgendlicher Festschmaus für den Kapitän, verkündete er, wenn er mit der Sengerei fertig war, und dann, mit einem dämonischen Grinsen im Gesicht, verschlang er das Tier mampfend und geifernd mit Haut und Haaren, spie aber die Knochen beim Kauen sorgfältig aus. Er legte sie zum Trocknen auf die Fensterbank, um sie später in seine Schiffe einzubauen – als Masten, Fahnenstangen oder Harpunen. Einmal, erinnere ich mich, nahm er den Brustkorb einer Maus auseinander und verwendete die Rippen als Ruder für ein Galeerenschiff. Ein andermal nahm er den Schädel einer Maus als Galionsfigur und befestigte ihn am Bug eines Piratenschoners. Es war ein prächtiges Stück Arbeit, wie ich zugeben muss, auch wenn mich der Anblick mit Ekel erfüllte.
    Wenn das Wetter gut war, stellte Ferdinand seinen Stuhl vor das offene Fenster, legte sein Kopfkissen aufs Fensterbrett und saß dann stundenlang vornübergebeugt, das Kinn in die Hände gestützt, und sah nach unten auf die Straße hinaus. Was er dabei dachte, war unmöglich in Erfahrung zu bringen, denn er sprach kein einziges Wort; nur manchmal, Stunden nach Beendigung einer solchen Sitzung, fing er mit grimmiger Stimme zu quatschen an, ließ einen ganzen Schwall streitsüchtigen Unsinns vom Stapel. «Alles einstampfen», platzte er dann etwa heraus. «Einstampfen und den Staub verstreuen. Schweine, alle miteinander! Du willst mir das Schlottern beibringen, feinfiedriger Feind? Das schaffst du nie. Puh und Pah, ich bin in Sicherheit.» Ein Galimathias nach dem anderen sprudelte aus ihm heraus wie irgendein Gift, das sich in seinem Blut angesammelt hatte. So tobte und zeterte er fünfzehn oder zwanzig Minuten lang, um dann jäh und völlig unvermittelt wieder in Schweigen zu verfallen, als habe der Sturm in seinem Innern sich plötzlich wieder gelegt.
    In den Monaten, die ich dort lebte, wurden Ferdinands Schiffe nach und nach immer kleiner. Von Whiskey- und Bierflaschen arbeitete er sich hinunter zu Hustensaftflaschen und Reagenzgläsern und leeren Parfümflakons, bis seine Schiffe schließlich geradezu mikroskopische Ausmaße annahmen. Mir kam diese Arbeit unvorstellbar vor, aber Ferdinand schien nie genug davon bekommen zu können. Und je kleiner das Schiff, desto mehr hing er daran. Ein paarmal, wenn ich morgens ein wenig früher als gewöhnlich aufwachte, sah ich Ferdinand am Fenster sitzen und ein Schiff in die Luft halten, er spielte damit wie ein Sechsjähriger, schwenkte es umher, steuerte es durch einen imaginären Ozean und murmelte mit verschiedenen Stimmen vor sich hin, als würde er die verteilten Rollen in einem selbsterfundenen Spiel darstellen. Armer, verblödeter Ferdinand. «Je kleiner, desto besser», sagte er eines Abends zu mir, als er mit seinen Leistungen als Künstler herumprahlte. «Eines Tages baue ich ein Schiff, das so klein ist, dass kein Mensch es sehen kann. Dann wirst du erkennen, mit wem du es zu tun hast, du kleine klugscheißerische Herumtreiberin. Ein Schiff, so klein, dass kein Mensch es sieht! Man wird ein Buch über mich schreiben, ich werde berühmt. Dann kriegst du deinen Teil, du fiese kleine Schlampe. Du wirst gar nicht wissen, wie dir geschieht. Haha! Keinen blassen Schimmer wirst du haben!»

Wir bewohnten ein einziges, mittelgroßes Zimmer, etwa fünfzehn mal zwanzig Fuß. Es gab eine Spüle, einen kleinen Campingkocher,

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