Im Land der letzten Dinge (German Edition)
an die Wand und klirrte zersplittert auf den Boden. Ein paar Sekunden lang glotzte Ferdinand bloß ungläubig, dann drehte er sich zornbebend und völlig außer sich zu Isabel herum und sagte: «Hast du das gesehen? Sie wollte mich umbringen! Die Scheißnutte wollte mich umbringen!» Aber Isabel hatte nicht vor, ihm ihr Beileid auszusprechen, und kurz darauf hielt er endlich die Klappe. Von da an sprach er nie mehr ein Wort davon, kam nie mehr auf meine Haare zu sprechen.
Schließlich lernte ich damit zu leben. Was mir zu schaffen machte, war bloß die Vorstellung, aber wenn man es sich genau überlegte, sah ich wohl gar nicht so schlimm aus. Jedenfalls hatte Isabel nicht im Sinn, einen Jungen aus mir zu machen – keine Verkleidung, keine falschen Schnurrbärte –, sondern wollte nur das Weibliche an mir, meine Auswüchse, wie sie das nannte, weniger augenfällig erscheinen lassen. Ich bin ja ohnehin nicht gerade ein Bild von einem Mann gewesen, und mich jetzt als einen auszugeben, hätte auch nichts eingebracht. Du erinnerst dich an meine Lippenstifte, meine geschmacklosen Ohrringe, meine engen und kurzen Röcke. Ich habe mich immer gern herausgeputzt und den Vamp gespielt, schon als kleines Kind. Isabel war darauf aus, dass ich so wenig Aufsehen erregte wie möglich, sie wollte dafür sorgen, dass niemand sich nach mir umdrehte. Nachdem meine Haare ab waren, gab sie mir daher eine Mütze, eine locker sitzende Jacke, wollene Hosen und ein paar ordentliche Schuhe – die sie erst kürzlich für sich selbst gekauft hatte. Die Schuhe waren eine Nummer zu groß, doch sollte möglichen Blasen mit einem zusätzlichen Paar Socken vorgebeugt werden. So ausstaffiert, Brüste und Hüfte einigermaßen versteckt, bot mein Körper nur noch herzlich wenig, wonach es jemanden hätte gelüsten können. Um das wirklich Vorhandene zu sehen, wäre eine lebhafte Phantasie vonnöten gewesen, und wenn in dieser Stadt an irgendetwas Mangel herrscht, dann an Phantasie.
Mein Leben damals: früh am Morgen auf und los, die langen Tage in den Straßen, und abends dann wieder nach Hause. Ich war zu beschäftigt, um über irgendetwas nachdenken zu können, zu erschöpft, um Abstand von mir gewinnen und vorausschauen zu können, und nach dem Abendessen wollte ich immer nur noch eines: in meiner Ecke zusammenklappen und schlafen. Der Vorfall mit dem Spiegel hatte in Ferdinands Verhalten leider eine Veränderung bewirkt; zwischen uns entstand eine Spannung, die kaum noch erträglich war. In Zusammenhang mit der Tatsache, dass er die Wohnung jetzt tagsüber mit Isabel teilen musste – was ihn seiner Freiheit und Einsamkeit beraubte –, wurde ich zum Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit, wann immer ich zu Hause war. Damit meine ich gar nicht so sehr sein Gemecker und die ewigen Sticheleien über die Höhe meiner Einnahmen oder das Essen, das ich für unsere Mahlzeiten nach Hause brachte. Nein, all das war von ihm zu erwarten gewesen. Das eigentliche Problem war viel ernster, geradezu verheerend in der Raserei, die dahintersteckte. Mit einem Mal war ich Ferdinands einziger Trost geworden, seine einzige Chance, sich Isabel zu entziehen, und da er mich verachtete, da schon meine Anwesenheit ihn peinigte, gab er sich alle Mühe, mir die Dinge so schwer wie nur möglich zu machen. Er sabotierte buchstäblich mein Leben, schikanierte mich bei jeder Gelegenheit, bombardierte mich mit tausend spitzen Attacken, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Ich ahnte schon früh, wohin das alles führen würde, aber auf so etwas war ich nicht vorbereitet gewesen, und ich wusste nicht, wie ich mich dagegen verteidigen sollte.
Du kennst mich ja sehr gut. Du weißt, was mein Körper braucht und was nicht, welche Stürme und Begierden darin lauern. Dergleichen gibt sich nicht einfach, auch nicht in einer Stadt wie dieser. Zugegeben, die Möglichkeiten, deinen Lüsten zu frönen, sind hier weniger zahlreich, und wenn man durch die Straßen geht, muss man kalt sein bis ins Herz, seinen Kopf von allen erotischen Abschweifungen freihalten – und trotzdem gibt es, nachts im Bett zum Beispiel, wenn die ganze Welt um dich herum im Dunkeln liegt, Augenblicke der Einsamkeit, in denen es schwerfällt, sich nicht in diversen Situationen vorzustellen. Ich will nicht verhehlen, wie einsam ich in meiner Ecke war. So etwas kann einen manchmal schon wahnsinnig machen. Ein Schmerz bohrt in deinem Innern, ein entsetzlicher, brüllender Schmerz, der niemals aufhören wird, wenn man
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