Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
betäubte alles andere. In dem Augenblick, als Ferdinand mich berührte, wusste ich, dass ich ihn töten würde, und die Gewissheit war so stark, so überwältigend, dass ich fast innehalten und ihm davon erzählen wollte, nur damit er erführe, was ich von ihm dachte und warum er den Tod verdiente.
    Er rutschte mit seinem Körper noch näher an mich heran, streckte sich am Rand der Pritsche aus, begann sein rauhes Gesicht in meinen Hals zu wühlen und murmelte mir etwas davon vor, dass er die ganze Zeit über recht gehabt hätte, und ja, er würde mich ficken, und ja, ich würde jede Sekunde genießen. Sein Atem roch nach Dörrfleisch und den Rüben, die wir zu Abend gegessen hatten, und wir schwitzten beide ungeheuer, wir schwammen förmlich in Schweiß. Die Luft im Zimmer war zum Ersticken, sie stand darin, und jedes Mal wenn er mich anfasste, fühlte ich das salzige Wasser über meine Haut rinnen. Ich tat nichts, um ihn aufzuhalten, lag einfach schlaff und leidenschaftslos da, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile begann er sich zu vergessen, das spürte ich, ich fühlte ihn an mir herumtasten, und als er dann auf mich klettern wollte, legte ich die Finger um seinen Hals. Anfangs ganz sachte, als spielte ich mit ihm, als wäre ich endlich seinem Charme erlegen, seinem unwiderstehlichen Charme, weshalb er auch keinen Verdacht schöpfte. Dann begann ich zu drücken, und seiner Kehle entrang sich ein heftiges leises Würgen. In diesem ersten Augenblick, nachdem ich begonnen hatte zuzudrücken, empfand ich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, überschwemmte mich ein unbändiges Entzücken. Es war, als hätte ich irgendeine innere Schwelle überschritten, und die Welt war mit einem Schlag zu einem Ort von unvorstellbarer Unkompliziertheit geworden. Ich schloss die Augen, und da hatte ich das Gefühl, durchs leere All zu fliegen, ich bewegte mich durch eine Nacht von ungeheurer Schwärze und voller Sterne. Solange ich Ferdinands Kehle gepackt hielt, war ich frei. Ich war jenseits der Erdanziehung, jenseits der Nacht, jenseits jeglicher Wahrnehmung meiner selbst.
    Und dann kam das Merkwürdigste. Gerade als mir klar wurde, dass ich nur noch wenige Augenblicke weiterzudrücken brauchte, um die Sache zu Ende zu bringen, ließ ich los. Mit Schwäche hatte das nichts zu tun, auch nicht mit Mitleid. Mein Griff um Ferdinands Kehle war eisenhart, nichts hätte ihn lockern können, und wenn er noch so gestrampelt und um sich geschlagen hätte. Nein, mir wurde nur plötzlich bewusst, was für ein Vergnügen ich dabei empfand. Ich weiß nicht, wie ich das sonst ausdrücken könnte, aber als ich da in der schwülen Finsternis auf dem Rücken lag und Ferdinand langsam das Leben ausquetschte, es fast schon geschafft hatte, merkte ich, dass ich ihn nicht aus Notwehr tötete – ich tötete ihn aus purem Vergnügen. Schreckliches Bewusstsein, schreckliches, schreckliches Bewusstsein. Ich ließ Ferdinands Kehle los und stieß ihn mit aller Kraft von mir weg. Ich empfand nichts als Ekel, nichts als Empörung und Bitterkeit. Dass ich aufgehört hatte, war ziemlich belanglos. So oder so wäre es nur um wenige Sekunden gegangen, aber ich erkannte jetzt, dass ich kein bisschen besser war als Ferdinand, nicht besser als jeder andere.
    Ein furchtbares, pfeifendes Keuchen drang aus Ferdinands Lungen, jämmerlich und unmenschlich wie der Schrei eines Esels. Seine Kehle umklammernd krümmte er sich auf dem Boden, die Brust hob sich in Panik, verzweifelt schnappte er nach Luft, geiferte, hustete, würgte die Katastrophe hoch und bespie sich von oben bis unten. «Jetzt weißt du Bescheid», sagte ich zu ihm. «Jetzt weißt du, mit wem du es zu tun hast. Wenn du so etwas noch einmal versuchst, werde ich nicht mehr so großzügig sein.»
    Ich wartete gar nicht erst ab, bis er sich vollständig erholt hatte. Es war schon genug, dass er überleben würde, mehr als genug. Ich stieg in meine Kleider und verließ die Wohnung, ging die Treppen hinunter und trat in die Nacht hinaus. Das alles war so schnell gegangen. Von Anfang bis Ende, stellte ich fest, hatte das Ganze nur wenige Minuten gedauert. Und Isabel war nicht aufgewacht. Das allein war schon ein Wunder. Ich war kurz davor gewesen, ihren Mann umzubringen, und Isabel in ihrem Bett hatte sich nicht gerührt.

Zwei oder drei Stunden lang streifte ich ziellos umher und kehrte dann in die Wohnung zurück. Es ging auf vier Uhr morgens zu, und Ferdinand und Isabel schliefen in ihren üblichen Ecken.

Weitere Kostenlose Bücher