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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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über zwei Stunden in der bitteren Kälte gewartet hatten, ohne dass es voranging, fingen drei Männer unmittelbar vor mir an, einen Polizeiwächter zu beschimpfen. Der Posten zog seinen Knüppel und walzte auf uns zu, bereit, auf jeden einzuprügeln, der ihm in die Quere kam. Die Devise lautet: erst schlagen, dann fragen; und mir war klar, dass ich keine Chance zur Verteidigung hatte. Ohne zu überlegen, brach ich aus der Schlange aus und rannte so schnell ich nur konnte die Straße hinunter. Vorübergehend verwirrt, machte der Polizist zwei oder drei Schritte in meine Richtung, blieb dann aber stehen, da ihm offenbar mehr daran lag, die Menge im Auge zu behalten. Ihm konnte es ja nur recht sein, wenn ich von der Bildfläche verschwand. Ich rannte weiter, und eben als ich die Ecke erreichte, hörte ich die Menge hinter mir in bedrohliches, feindseliges Geschrei ausbrechen. Das versetzte mich nun richtig in Panik, denn ich wusste, nun würde es in wenigen Minuten in der ganzen Gegend von Rollkommandos wimmeln. Ich lief, so schnell ich konnte, weiter, jagte eine Straße nach der anderen hinunter, ohne mich auch nur umzusehen vor lauter Angst. Nach einer Viertelstunde, immer noch laufend, fand ich mich schließlich neben einem mächtigen Steingebäude. Ich hatte keine Ahnung, ob ich verfolgt wurde oder nicht, aber gerade da ging wenige Fuß vor mir eine Tür auf, und ich stürzte hinein. Ein dünner Mann mit blassem Gesicht und Brille stand auf der Schwelle, im Begriff zu gehen, und sah mich entsetzt an, als ich an ihm vorbeischlüpfte. Ich war offenbar in eine Art Büro geraten – ein kleines Zimmer mit drei oder vier Schreibtischen und einem Wirrwarr von Zeitungen und Büchern.
    «Sie können hier nicht herein», sagte er ungehalten. «Das ist die Bücherei.»
    «Und wenn’s die Villa des Präsidenten wäre», sagte ich und rang vornübergekrümmt nach Atem. «Jetzt bin ich drin, und niemand bekommt mich wieder raus.»
    «Ich werde Sie melden müssen», sagte er mit blasierter, unleidlicher Stimme. «Sie können doch nicht einfach so hier hereinplatzen. Dies ist die Bücherei, und ohne Ausweis hat hier niemand Zutritt.»
    Dieses scheinheilige Gebaren verschlug mir die Sprache. Ich war erschöpft, mit meinem Latein am Ende, und anstatt mich auf einen Streit mit ihm einzulassen, stieß ich ihn mit aller Kraft zu Boden. Eine lächerliche Handlungsweise, aber ich konnte mich nicht bremsen. Dem Mann flog die Brille aus dem Gesicht, als er hinschlug, und ich geriet sogar kurz in Versuchung, sie zu zertreten.
    «Melden Sie mich, wenn’s Ihnen Spaß macht», sagte ich. «Aber ich gehe hier erst, wenn man mich rausträgt.» Und ehe er noch aufstehen konnte, drehte ich mich um und lief durch die Tür auf der anderen Seite des Zimmers.
    Ich kam in einen großen Saal, einen riesigen, eindrucksvollen Raum mit hoch gewölbter Decke und Marmorboden. Der jähe Kontrast zwischen dem winzigen Büro und diesem gewaltigen Raum war verblüffend. Meine Schritte hallten zu mir wider, und fast war es mir, als könnte ich das Echo meines Atems von den Wänden hören. Hier und da schritten Gruppen von Leuten auf und ab und sprachen leise miteinander, offenbar in ernste Gespräche vertieft. Als ich den Saal betrat, drehten sich mehrere Köpfe zu mir herum, aber das war nur ein Reflex, und gleich darauf wandten sie sich alle wieder ab. Ich ging so leise und unauffällig wie möglich an diesen Leuten vorbei, versuchte mit gesenktem Blick den Anschein zu erwecken, als würde ich mich auskennen. Nach dreißig oder vierzig Fuß kam ich an eine Treppe und begann hochzusteigen.
    Zum ersten Mal war ich in der Nationalbibliothek. Es war ein großartiges Gebäude, mit den Porträts von Gouverneuren und Generalen an den Wänden, italienisch anmutenden Säulenreihen und schönen Marmorintarsien – eines der Wahrzeichen der Stadt. Wie alles andere hatte jedoch auch dies seine besten Tage hinter sich. Eine Decke im ersten Stock war eingesunken, Säulen waren umgestürzt und geborsten, überall lagen Bücher und Zeitungen verstreut. Auch hier sah ich Scharen von Leuten herumlaufen – hauptsächlich Männer, stellte ich fest –, doch niemand schenkte mir die geringste Beachtung. Gegenüber den Regalen mit dem Zettelkatalog stieß ich auf eine grüne Ledertür, die zu einer ummauerten Treppe führte. Ich folgte dieser Treppe ins nächste Stockwerk hinauf und gelangte in einen langen, niedrigen Korridor mit zahlreichen Türen auf beiden Seiten. Niemand

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