Im Land der letzten Dinge (German Edition)
sonst war in dem Flur, und da hinter den Türen hervor keinerlei Geräusche zu mir drangen, hielt ich die Zimmer für leer. Ich versuchte die erste Tür zu meiner Rechten zu öffnen, aber sie war verschlossen. Ebenso die zweite Tür. Die dritte dann ging wider Erwarten auf. Drinnen saßen um einen hölzernen Tisch fünf oder sechs Männer, die lebhaft und erregt über irgendetwas diskutierten. Der Raum war kahl und ohne Fenster, gelbliche Farbe blätterte von den Wänden, und Wasser tropfte von der Decke. Die Männer trugen Bärte, schwarze Kleidung und Hüte. Ihr plötzlicher Anblick erschreckte mich so, dass ich leise aufstöhnte und die Tür wieder schließen wollte. Aber der Älteste am Tisch wandte sich um und schenkte mir ein wunderbares Lächeln, ein Lächeln so voller Wärme und Güte, dass ich zögerte.
«Können wir irgendetwas für Sie tun?», fragte er.
Er sprach mit starkem Akzent (ohne Diphthonge, und das s klang eher wie sch), aber ich hätte nicht sagen können, aus welchem Land er stammte. Kennen wir irgenetwasch fir Sie tun. Dann sah ich ihm in die Augen, und ein Funke des Erkennens durchzuckte mich.
«Ich dachte, die Juden wären alle tot», flüsterte ich.
«Ein paar von uns sind noch übrig», sagte er und lächelte mich wieder an. «Uns wird man nicht so leicht los.»
«Ich bin auch Jüdin», platzte ich heraus. «Mein Name ist Anna Blume, und ich bin von weither gekommen. Ich bin jetzt seit über einem Jahr in der Stadt, auf der Suche nach meinem Bruder. Sie werden ihn wohl nicht kennen. Er heißt William. William Blume.»
«Nein, meine Liebe», sagte er kopfschüttelnd, «ich habe Ihren Bruder nicht kennengelernt.» Er sah über den Tisch seine Kollegen an und stellte ihnen dieselbe Frage, doch keiner von ihnen wusste, wo William war.
«Es ist lange her», sagte ich. «Falls ihm nicht irgendwie die Flucht gelungen ist, ist er bestimmt tot.»
«Das ist sehr wahrscheinlich», sagte der Rabbi mit sanfter Stimme. «Es sind so viele gestorben. Man sollte lieber nicht mit Wundern rechnen.»
«An Gott glaube ich nicht mehr, falls Sie das meinen», sagte ich. «Das habe ich schon als kleines Mädchen aufgegeben.»
«Alles andere fällt auch schwer», sagte der Rabbi. «Wenn man nach dem Augenschein geht, leuchtet es durchaus ein, warum so viele denken wie Sie.»
«Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Sie an Gott glauben», fuhr ich auf.
«Wir sprechen mit ihm. Aber ob er uns hört oder nicht, ist eine andere Frage.»
«Meine Freundin Isabel hat an Gott geglaubt», redete ich weiter. «Die ist auch tot. Ihre Bibel habe ich für sieben Glots an Mr. Gambino verkauft, den Auferstehungsagenten. Das war gemein von mir, oder?»
«Nicht unbedingt. Es gibt schließlich wichtigere Dinge als Bücher. Essen kommt vor Gebeten.»
Merkwürdig, was in Gegenwart dieses Mannes über mich gekommen war, doch je länger ich mit ihm sprach, desto mehr redete ich wie ein Kind. Vielleicht erinnerte er mich an die Verhältnisse in meiner frühen Kindheit, an die finsteren Zeiten, da ich noch glaubte, was Väter und Lehrer mir erzählten. Ich bin nicht sicher, aber Tatsache war, dass ich mich bei ihm auf sicherem Grund fühlte und wusste, dass ich ihm vertrauen konnte. Fast unbewusst fühlte ich mich in meine Manteltasche greifen und das Bild von Samuel Farr hervorziehen.
«Ich suche auch nach diesem Mann», sagte ich. «Sein Name ist Samuel Farr, und er weiß womöglich, was meinem Bruder zugestoßen ist.»
Ich reichte dem Rabbi das Bild, aber nachdem er es eine Zeitlang studiert hatte, schüttelte er den Kopf und sagte, er kenne ihn nicht. Schon stieg Enttäuschung in mir auf, als ein Mann am anderen Ende des Tisches sich zu Wort meldete. Er war der jüngste von allen, und sein rötlicher Bart war kürzer und schütterer als der der anderen.
«Rabbi», sagte er zaghaft. «Darf ich etwas sagen?»
«Du brauchst nicht um Erlaubnis zu fragen, Isaac», sagte der Rabbi. «Du darfst dich ganz frei äußern.»
«Natürlich ist nichts gewiss, aber ich glaube diese Person zu kennen», sagte der junge Mann. «Zumindest kenne ich jemanden dieses Namens. Vielleicht ist es nicht der Mann, nach dem die junge Dame sucht, aber den Namen kenne ich bestimmt.»
«Dann sieh dir das Bild an», sagte der Rabbi und schob ihm das Foto über den Tisch zu.
Isaac betrachtete es, aber sein Gesichtsausdruck blieb so verschlossen, dass ich sofort die Hoffnung aufgab. «Die Ähnlichkeit ist sehr gering», sagte er schließlich.
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