Im Land der letzten Dinge (German Edition)
«Aber nachdem ich es mir nun genau ansehen konnte, habe ich kaum noch einen Zweifel, dass dies der Mann ist.» Isaacs bleiches Gelehrtengesicht verzog sich zu einem Lächeln.
«Ich habe mehrmals mit ihm gesprochen», fuhr er fort.
«Ein intelligenter Mann, aber außerordentlich verbittert. Wir sind fast in allem verschiedener Meinung.»
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Bevor ich ein Wort sagen konnte, fragte der Rabbi: «Wo ist dieser Mann anzutreffen, Isaac?»
«Mr. Farr ist nicht fern», ließ Isaac sich das Wortspiel nicht nehmen. Er kicherte kurz und fügte dann hinzu: «Er wohnt hier in der Bibliothek.»
«Ist das wahr?», sagte ich schließlich. «Ist das wirklich wahr?»
«Aber ja. Ich kann Sie gleich zu ihm bringen, wenn Sie wollen.» Isaac zögerte und wandte sich dann an den Rabbi. «Vorausgesetzt, ich habe Ihre Erlaubnis.»
Der Rabbi sah jedoch etwas beunruhigt aus. «Gehört dieser Mann einer der Fakultäten an?», fragte er.
«Nicht dass ich wüsste», antwortete Isaac. «Ich glaube, er ist ein Unabhängiger. Er hat mir erzählt, dass er irgendwo für eine Zeitung gearbeitet hätte.»
«Das stimmt», sagte ich. «Stimmt ganz genau. Samuel Farr ist Journalist.»
«Und was macht er jetzt?», fragte der Rabbi, ohne meinen Einwurf zu beachten.
«Er schreibt ein Buch. Das Thema kenne ich nicht, aber ich nehme an, es hat etwas mit der Stadt zu tun. Wir haben ein paarmal unten im Großen Saal miteinander gesprochen. Er stellt sehr scharfsinnige Fragen.»
«Ist er auf unserer Seite?», fragte der Rabbi.
«Er ist neutral», sagte Isaac, «weder für noch gegen uns. Ein leidender Mann, aber vollkommen fair und frei von persönlichen Interessen.»
Der Rabbi drehte sich zu mir um und erklärte: «Ihnen ist bekannt, dass wir viele Feinde haben», sagte er. «Unsere Zulassung ist ständig gefährdet, da wir keinen vollen akademischen Status mehr besitzen; ich muss daher mit großer Vorsicht vorgehen.» Ich nickte und versuchte so zu tun, als wüsste ich, wovon er redete. «Aber unter diesen Umständen», fuhr er fort, «wüsste ich nicht, was es schaden könnte, wenn Isaac Ihnen zeigte, wo dieser Mann lebt.»
«Danke, Rabbi», sagte ich. «Ich bin Ihnen sehr verbunden.»
«Isaac wird Sie bis vor die Tür bringen, aber ich möchte nicht, dass er auch nur einen Schritt weitergeht. Ist das klar, Isaac?» Er sah seinen Schüler mit einem Ausdruck ruhiger Autorität an.
«Ja, Rabbi», sagte Isaac.
Der Rabbi erhob sich von seinem Stuhl und schüttelte mir die Hand. «Sie müssen mich einmal besuchen kommen, Anna», sagte er und sah plötzlich sehr alt, sehr müde aus. «Ich möchte wissen, wie das alles ausgegangen ist.»
«Ich komme wieder», sagte ich. «Das verspreche ich.»
Das Zimmer lag im achten, dem obersten Stockwerk des Gebäudes. Isaac eilte davon, sobald wir davor angelangt waren, nuschelte eine Entschuldigung, dass er nicht bleiben könne, und dann war ich plötzlich wieder allein und stand mit einer winzigen Kerze in der linken Hand in dem pechschwarzen Korridor. Ein Gesetz des Stadtlebens lautet: Klopfe nie an eine Tür, wenn du nicht weißt, was dahinter ist. War ich diesen weiten Weg gekommen, nur um neues Unheil auf mich zu ziehen? Samuel Farr war für mich nichts als ein Name, ein Symbol für unerfüllbare Sehnsüchte und absurde Hoffnungen. Er hatte mir als Ansporn gedient, mich nicht gehen zu lassen, aber jetzt, da ich es endlich bis vor seine Tür geschafft hatte, bekam ich Angst. Wenn die Kerze nicht so schnell heruntergebrannt wäre, hätte ich vielleicht nie den Mut gefunden anzuklopfen.
Aus dem Zimmer ertönte eine barsche, unfreundliche Stimme: «Gehen Sie.»
«Ich suche nach Samuel Farr. Ist das Samuel Farr da drinnen?»
«Wer will das wissen?», fragte die Stimme.
«Anna Blume», sagte ich.
«Ich kenne keine Anna Blume», erwiderte die Stimme. «Gehen Sie.»
«Ich bin William Blumes Schwester», sagte ich. «Ich versuche seit über einem Jahr, Sie zu finden. Sie können mich jetzt nicht wegschicken. Wenn Sie die Tür nicht aufmachen wollen, werde ich so lange klopfen, bis Sie es tun.»
Ich hörte einen Stuhl über den Boden scharren, verfolgte das Geräusch von näherkommenden Schritten und hörte dann einen Riegel aus dem Schloss gleiten. Die Tür ging auf, und jäh überschwemmte mich Licht, ein gewaltiger Schwall Sonnenlicht, das durch ein Zimmerfenster in den Korridor strömte. Meine Augen brauchten eine Weile, um sich darauf einzustellen. Als es mir
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