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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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die Antwort auf eine Frage zu wissen glaubt, erweist sich die Frage selbst als sinnlos.
    Mehrere Wochen lang versuchte ich zu entkommen. Zunächst schien es jede Menge Möglichkeiten zu geben, eine ganze Reihe von Wegen zurück nach Hause, und da mir einiges an Geld zur Verfügung stand, sah ich keine großen Schwierigkeiten voraus. Das war natürlich falsch gedacht, aber es dauerte eine ganze Weile, bis ich bereit war, mir das einzugestehen. Ich war auf einem ausländischen Hilfsschiff hier eingetroffen, und dass mich ein solches auch wieder fortbringen könnte, schien mir eine plausible Annahme. Fest entschlossen, sämtliche zur Buchung der Überfahrt erforderlichen Beamten zu bestechen, begab ich mich daher zum Hafen. Aber dort lag kein einziges Schiff. Sogar die kleinen Fischerboote, die ich vor einem Monat dort gesehen hatte, waren verschwunden. Statt dessen wimmelte es auf dem ganzen Ufer von Arbeitern – es schienen Hunderte und Aberhunderte zu sein, mehr als ich zählen konnte. Einige luden Schutt von Lastwagen ab, andere trugen Ziegel und Steine an die Kaimauer, wieder andere legten die Fundamente für etwas, das wie ein riesiger Deich oder eine Befestigungsanlage aussah. Bewaffnete Polizeiposten überwachten von Plattformen aus die Arbeiter, und ringsum herrschte lärmendes Chaos – Maschinen rumpelten, Leute liefen hin und her, Truppführer brüllten Befehle. Das Ganze erwies sich als das «Deichprojekt», ein staatliches Bauvorhaben, das die neue Regierung vor kurzem in die Wege geleitet hatte. Die Regierungen kommen und gehen hier ziemlich schnell, und oft genug bekommt man gar nichts von den Veränderungen mit. Von dem aktuellen Machtwechsel erfuhr ich so zum ersten Mal, und als ich jemanden nach dem Zweck des Deiches fragte, erklärte er mir, damit wolle man sich auf einen möglichen Krieg vorbereiten. Die Bedrohung durch eine Invasion von außen nehme ständig zu, sagte er, und als Bürger hätten wir die Pflicht, unsere Heimat zu schützen. Dank der Bemühungen des großen Sowieso – wie immer der neue Führer heißen mochte – werde die Bausubstanz der eingestürzten Häuser jetzt zu Verteidigungszwecken eingesammelt, außerdem gebe das Projekt Tausenden von Leuten Arbeit. Was man dafür bekomme? fragte ich. Kein Geld, antwortete er, aber ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit pro Tag. Ob ich anheuern wolle? Nein, danke, wehrte ich ab, ich hätte anderes zu tun. Na ja, sagte er, ich hätte noch viel Zeit, mich anders zu besinnen. Die Regierung habe für die Errichtung des Deiches mindestens fünfzig Jahre veranschlagt. Wie schön für sie, sagte ich, und wie soll man in der Zwischenzeit von hier wegkommen? Aber nein, meinte er kopfschüttelnd, das ist unmöglich. Schiffen ist die Einfahrt nicht mehr erlaubt – und wenn keins kommt, kann auch keins abfahren. Und was ist mit Flugzeugen? fragte ich. Flugzeugen? Was ist das? fragte er mit einem verwirrten Lächeln zurück, als hätte ich ihm gerade einen unverständlichen Witz erzählt. Ein Flugzeug, sagte ich. Eine Maschine, die durch die Luft fliegt und Leute von einem Ort zu einem anderen befördert. Lächerlich, sagte er und sah mich argwöhnisch an. Unmöglich. Ja wissen Sie denn nicht mehr? fragte ich. Ich weiß nicht, wovon Sie reden, gab er zurück. Sie könnten Schwierigkeiten bekommen, wenn Sie solchen Unsinn verbreiten. Die Regierung sieht es gar nicht gern, wenn Leute Geschichten erfinden. Das schadet der Moral.
    Du siehst, womit man es hier zu tun hat. Nicht nur dass Dinge verschwinden – mit ihnen verschwindet zugleich auch die Erinnerung an sie. Dunkle Bereiche entstehen im Gehirn, und wer sich nicht ständig bemüht, sich die verlorenen Dinge zu vergegenwärtigen, dem kommen sie schnell für immer abhanden. Ich bin gegen diese Krankheit nicht immuner als jeder andere, und zweifellos gibt es auch in mir schon viele solcher leeren Stellen. Ein Ding verschwindet; und wenn du den Gedanken daran zu lange aufschiebst, wirst du es auch mit der größten Anstrengung nicht mehr dem Vergessen entreißen können. Erinnern ist schließlich kein Willensakt. Es geschieht unwillkürlich, und wenn ständig zu vieles im Fluss begriffen ist, muss das Gehirn ja versagen, müssen ihm die Dinge entgleiten. Manchmal, wenn ich nach einem Gedanken tappe, der mir entfallen ist, beginne ich in die alten Zeiten zu Hause abzuschweifen und denke daran, wie es war, als ich ein kleines Mädchen war und die ganze Familie mit dem Zug in die Sommerferien

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