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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nach Norden fuhr. Mein großer Bruder William überließ mir immer den Fensterplatz, und oft genug sprach ich dann mit keinem ein Wort, drückte mein Gesicht an die Scheibe und sah in die Landschaft hinaus, studierte den Himmel und die Bäume und das Wasser, während der Zug durch die Wildnis raste. Wie schön ich das jedes Mal fand, viel schöner als die Dinge in der Stadt, und jedes Jahr sagte ich mir, Anna, so etwas Schönes hast du noch nie gesehen – versuch es zu behalten, versuch dir all diese schönen Dinge einzuprägen, dann werden sie immer bei dir sein, auch wenn du sie nicht mehr sehen kannst. Ich glaube, nie habe ich die Welt intensiver betrachtet als auf diesen Zugfahrten in den Norden. All das sollte mir gehören, all dieses Schöne sollte ein Teil meiner selbst werden, und ich erinnere mich, wie ich es mir zu merken versuchte, es mir für später aufzubewahren versuchte, es für eine Zeit festhalten wollte, da ich es wirklich brauchen würde. Aber merkwürdig – nichts davon ist mir geblieben. So sehr habe ich mich bemüht, doch aus irgendeinem Grund ging es mir schließlich für immer verloren, und am Ende blieb mir nur die Erinnerung daran, wie sehr ich mich bemüht hatte. Die Dinge zogen zu schnell vorbei, und während ich sie noch sah, flogen sie mir bereits aus dem Kopf, wurden ersetzt von anderen, die schon verschwanden, ehe ich sie überhaupt sehen konnte. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist ein verschwommener Fleck, ein bunter und schöner Fleck. Aber die Bäume, der Himmel und das Wasser – all das ist fort. War schon immer fort, noch ehe ich es besessen hatte.
    Es bringt also nichts, einfach Ekel zu empfinden. Jeder neigt zu Vergesslichkeit, auch unter den günstigsten Umständen, und an einem Ort wie diesem, wo so vieles aus der physischen Welt verschwindet, gerät natürlich erst recht so manches in Vergessenheit. Am Ende liegt das Problem gar nicht so sehr darin, dass die Leute vergessen, sondern dass nicht alle dasselbe vergessen. Was für den einen noch in der Erinnerung existiert, kann für den anderen unwiederbringlich verloren sein, und daraus entstehen Schwierigkeiten, unüberwindliche Verständigungsbarrieren. Wie sollst du zum Beispiel mit jemandem über Flugzeuge reden, wenn er gar nicht weiß, was ein Flugzeug ist? Es ist ein langsamer, aber unvermeidlicher Prozess der Auslöschung. Worte sind im Allgemeinen ein wenig haltbarer als Dinge, aber schließlich schwinden auch sie dahin, zusammen mit den Bildern, die sie einst hervorriefen. Ganze Klassen von Gegenständen verschwinden – Blumentöpfe zum Beispiel, oder Zigarettenfilter, oder Gummibänder –, und eine Zeitlang erkennt man die Worte noch wieder, auch wenn man sich an ihre Bedeutung nicht mehr erinnern kann. Aber dann werden sie ganz allmählich zu bloßen Geräuschen, einem willkürlichen Gemenge von Kehl- und Reiblauten, einem Gewirr von Phonemen, bis es schließlich auf ein einziges Kauderwelsch hinausläuft. Dann sagt einem das Wort «Blumentopf» nicht mehr als das Wort «Splandigo». Du nimmst es mit dem Verstand wahr, aber der registriert es als etwas Unverständliches, als ein Wort aus einer Sprache, die du nicht kennst. Und je mehr solcher fremd klingenden Worte um dich herum aufsprießen, desto aufreibender wird jegliche Unterhaltung. So spricht denn jeder seine Privatsprache, und da die Gebiete, auf denen man einander noch versteht, beständig schrumpfen, wird der Gedankenaustausch mit anderen immer schwieriger.
    Den Plan, nach Hause zu fahren, musste ich aufgeben. Von allem, was mir bis dahin zugestoßen war, war dies wohl am schwersten zu verwinden. Bis hierher hatte ich mir stets weisgemacht, jederzeit und nach Belieben zurückkehren zu können. Doch der Bau des Deiches und das Aufgebot so vieler Leute zur Verhinderung einer Abreise zerstörte diese tröstliche Vorstellung. Zuerst war Isabel gestorben, dann hatte ich die Wohnung verloren. Mein einziger Trost war der Gedanke an die Heimat gewesen, und der war mir jetzt plötzlich auch noch genommen worden. Zum ersten Mal seit meinem Eintreffen in der Stadt sah ich vollkommen schwarz.
    Ich erwog, mein Heil in der entgegengesetzten Richtung zu suchen. Am Westrand der Stadt gab es den Fiddler-Wall, und angeblich brauchte man nur eine Reisegenehmigung, wenn man ihn durchschreiten wollte. Ich glaubte, alles wäre besser als die Stadt, selbst das Unbekannte, aber nachdem ich tagelang von Behörde zu Behörde gelaufen war und Schlange gestanden hatte, nur

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