Im Land der letzten Dinge (German Edition)
endlich gelang, die Person vor mir auszumachen, sah ich als erstes eine Pistole – eine kleine schwarze Pistole, die genau auf meinen Magen gerichtet war. Es war tatsächlich Samuel Farr, aber mit dem Foto hatte er nicht mehr viel Ähnlichkeit. Der kräftige junge Mann auf dem Bild war eine hagere bärtige Gestalt mit dunklen Ringen unter den Augen geworden, und sein Körper schien eine nervöse, unberechenbare Energie auszustrahlen. Er sah aus wie jemand, der einen Monat lang nicht mehr geschlafen hat.
«Wie soll ich wissen, dass Sie diejenige sind, für die Sie sich ausgeben?», fragte er.
«Weil ich es sage. Weil es dumm von Ihnen wäre, mir nicht zu glauben.»
«Ich verlange einen Beweis. Ohne Beweis werde ich Sie nicht hereinlassen.»
«Sie brauchen mir nur zuzuhören. Mein Akzent ist derselbe wie Ihrer. Wir stammen aus demselben Land, derselben Stadt. Wahrscheinlich sind wir sogar im selben Viertel aufgewachsen.»
«Jeder kann eine Stimme nachmachen. Da werden Sie mir schon mehr bieten müssen.»
«Wir wär’s damit», sagte ich, griff in meine Manteltasche und zog das Foto heraus.
Er betrachtete es zehn, zwanzig Sekunden lang, ohne ein Wort zu sagen, und langsam schien sein ganzer Körper zu schrumpfen, in sich selbst zu versinken. Als er wieder zu mir aufblickte, sah ich, dass die Pistole an seiner Seite herunterhing.
«Großer Gott», sagte er leise, fast flüsternd. «Wo haben Sie das her?»
«Von Bogat. Er gab es mir vor meiner Abreise.»
«Das bin ich», sagte er. «So habe ich mal ausgesehen.»
«Ich weiß.»
«Kaum zu glauben, was?»
«Nun ja. Wenn man bedenkt, wie lange Sie schon hier sind.»
Er schien kurz einem Gedanken nachzuhängen. Als er mich wieder ansah, war es, als würde er mich nicht mehr erkennen.
«Was sagten Sie, wer Sie sind?» Er lächelte entschuldigend, und ich sah, dass drei oder vier seiner unteren Zähne fehlten.
«Anna Blume. William Blumes Schwester.»
«Blume. Wie blühen und vergehen, verstehe.»
«Ganz recht. Blume, wie Geburten und Beerdigungen. Sie haben die Wahl.»
«Sie möchten sicherlich hereinkommen, oder?»
«Ja. Deswegen bin ich hier. Wir haben eine Menge zu bereden.»
Das Zimmer war klein, aber nicht so klein, dass zwei Leute nicht hineingepasst hätten. Auf dem Boden eine Matratze, am Fenster ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Holzofen, an den Wänden Unmengen von Zeitungen und Büchern aufgestapelt, in einem Karton die Kleider. Es erinnerte mich an ein Zimmer in einem Studentenwohnheim – nicht unähnlich dem, das du hattest, als ich dich in dem Jahr an der Universität besucht habe. Die Decke war niedrig und die Schräge der Außenwand so steil, dass man in diesen Teil des Zimmers nur mit gekrümmtem Rücken gelangen konnte. An dieser Wand war freilich etwas Bemerkenswertes – ein schönes, fächerförmiges Fenster, das sich fast über ihre gesamte Breite erstreckte. Dicke Glasscheiben, unterteilt von schlanken Bleistäben, die ein Muster bildeten, so kompliziert wie ein Schmetterlingsflügel. Man konnte durch dieses Fenster buchstäblich meilenweit sehen – bis zum Fiddler-Wall und darüber hinaus.
Sam bedeutete mir, auf dem Bett Platz zu nehmen, setzte sich selbst auf den Schreibtischstuhl und drehte ihn zu mir herum. Er entschuldigte sich, die Waffe auf mich gerichtet zu haben, aber seine Lage sei prekär, sagte er, und er könne keinerlei Risiken eingehen. Er lebe jetzt seit fast einem Jahr in der Bücherei, und es habe sich das Gerücht verbreitet, in seinem Zimmer sei ein großer Geldbetrag versteckt.
«So wie es hier aussieht», sagte ich, «wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Sie reich sein könnten.»
«Ich brauche das Geld nicht für mich, sondern für das Buch, das ich schreibe. Ich bezahle Leute dafür, dass sie herkommen und mit mir sprechen. Pro Interview einen gewissen Betrag, je nachdem wie lange es dauert. Ein Glot für die erste Stunde, einen halben Glot für jede weitere. Ich habe Hunderte geführt, eine Geschichte nach der anderen aufgezeichnet. Ich wüsste nicht, wie ich sonst daran kommen sollte. Die Geschichte ist so umfangreich, verstehen Sie, dass ein einziger sie unmöglich ganz erzählen kann.»
Sam war von Bogat in die Stadt geschickt worden, und noch jetzt fragte er sich, was in ihn gefahren war, dass er diesen Auftrag angenommen hatte. «Wir alle wussten, dass Ihrem Bruder irgendetwas Schreckliches zugestoßen war», sagte er. «Über sechs Monate hatte er sich nicht mehr gemeldet, und wer immer ihm
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