Im Land der letzten Dinge (German Edition)
um Tag für Tag mit meinem Anliegen an ein anderes Amt verwiesen zu werden, bekam ich schließlich heraus, dass der Preis für Reisegenehmigungen auf zweihundert Glots gestiegen war. Das kam natürlich nicht in Frage, hätte es doch auf einen Schlag mehr als die Hälfte meiner Mittel verschlungen. Ich vernahm Gerüchte über eine Untergrundorganisation, die einen für ein Zehntel dieses Preises aus der Stadt schmuggeln sollte, aber viele Leute waren der Meinung, es handle sich dabei um eine Falle – um ein von der neuen Regierung clever arrangiertes Lockmittel. Es hieß, am anderen Ende des Tunnels wären Polizisten postiert, und sobald man auf der anderen Seite herausgekrochen käme, würde man verhaftet – und unverzüglich in eines der Zwangsarbeitslager in der südlichen Bergbauzone depotiert. Ob dieses Gerücht zutraf oder nicht, konnte ich unmöglich in Erfahrung bringen, und um es herauszufinden, schien mir das Risiko zu hoch. Dann kam der Winter, und die Frage war für mich erledigt. Alle Fluchtgedanken würden bis zum Frühling warten müssen – vorausgesetzt natürlich, dass ich bis zum Frühling durchhielt. Unter den gegebenen Umständen schien mir nichts unwahrscheinlicher als das.
Es war der härteste Winter seit Menschengedenken – der Schreckliche Winter, wie jedermann ihn nannte –, und selbst jetzt, Jahre danach, behauptet er seinen Platz als ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Stadt, als Trennlinie zwischen zwei Epochen.
Die Kälte hielt fünf oder sechs Monate lang an. Ab und zu gab es zwar einmal ein kurzes Tauwetter, aber diese gelinden Wärmeperioden steigerten die Probleme nur. Es schneite etwa eine Woche lang – ungeheure Stürme, die die Stadt mit Weiß blendeten –, dann kam die Sonne heraus und brannte kurz mit sommerlicher Intensität. Der Schnee schmolz, und schon am Nachmittag waren die Straßen überflutet. Die Gullies flossen über von den Wassermassen, und wo man auch hinsah, war ein irrsinniges Gleißen von Wasser und Licht, als wäre die ganze Welt in einen riesigen zerfließenden Kristall verwandelt worden. Dann plötzlich verfinsterte sich der Himmel, es wurde Nacht, und die Temperatur fiel wieder unter Null – und zwar so jäh, dass das Wasser zu den wüstesten Eisgebilden zusammenfror: Beulen, Kräusel und Strudel, mitten im Überschlag erstarrte Wogen; ein geologischer Wahnsinn im kleinen. Am Morgen war das Gehen natürlich so gut wie unmöglich – Leute schlitterten um- und übereinander, Schädel krachten aufs Eis, Leiber knallten hilflos auf die glatten harten Flächen. Dann schneite es wieder, und der Kreislauf fing von vorne an. So ging das monatelang, und am Ende blieben Tausende von Toten zurück. Die Obdachlosen hatten praktisch keine Überlebenschance, doch auch unter den Geschützten und Wohlgenährten gab es zahllose Verluste. Alte Gebäude brachen unter der Schneelast zusammen und begruben ganze Familien unter sich. Die Kälte brachte die Leute um den Verstand, und den ganzen Tag in einer schlecht beheizten Wohnung herumzusitzen war am Ende auch nicht viel besser, als draußen zu sein. Die Leute zerschlugen ihre Möbel und verbrannten sie für ein bisschen Wärme, und viele dieser Feuer gerieten außer Kontrolle. Fast täglich wurden so Häuser zerstört, manchmal ganze Wohnblöcke und Viertel. Wann immer ein solches Feuer ausbrach, scharten sich ungeheure Massen von Obdachlosen um die Brandstelle und blieben so lange dort, wie das Gebäude brannte – sie genossen die Wärme, jubelten auf, wenn die Flammen in den Himmel loderten. Sämtliche Bäume in der Stadt wurden in diesem Winter gefällt und verheizt. Sämtliche Haustiere verschwanden; sämtliche Vögel wurden geschossen. Nahrungsmittel wurden so drastisch knapp, dass der Bau des Deiches unterbrochen wurde – kaum sechs Monate nach Baubeginn –, damit alle verfügbaren Polizisten für die Bewachung der Warentransporte zu den städtischen Märkten eingesetzt werden konnten. Gleichwohl kam es zu einer Reihe von Lebensmittelkrawallen, die weitere Tote, Verletzte und Katastrophen zur Folge hatten. Niemand weiß, wie viele Leute in diesem Winter gestorben sind, aber ich habe von Schätzungen gehört, die von einem Viertel bis einem Drittel der Bevölkerung sprachen.
Aus irgendeinem Grund blieb das Glück mir treu. Ende November wurde ich bei einem Lebensmittelkrawall auf dem Ptolemy Boulevard beinahe verhaftet. Dort stand an diesem Tag wie üblich eine endlose Schlange, und nachdem wir
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