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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dorthin folgte, würde in genau demselben Schlamassel landen. Bogat focht das natürlich nicht an. Er rief mich eines Morgens in sein Büro und sagte: ‹Auf diese Chance haben Sie gewartet, junger Mann. Ich schicke Sie dort rüber, um Blume zu ersetzen.› Ich bekam eindeutige Anweisungen: Berichte schreiben, nach Williams Schicksal forschen, mich selbst am Leben erhalten. Drei Tage später gab man eine Abschiedsparty mit Champagner und Zigarren für mich. Bogat sprach einen Toast, und alles trank auf meine Gesundheit, schüttelte mir die Hand und klopfte mir auf die Schulter. Ich kam mir vor wie ein Gast bei meiner eigenen Beerdigung. Aber immerhin warteten nicht drei Kinder und ein Teich voller Goldfische zu Hause auf mich wie auf Willoughby. Was immer man sonst vom Chef sagen könnte, Gefühl hat der Mann. Ich habe es ihm nie übelgenommen, dass er ausgerechnet mich hierhergeschickt hat. Eigentlich wollte ich es wohl selbst. Denn sonst hätte ich ja ohne weiteres kündigen können. So fing es also an. Ich packte meine Sachen, spitzte meine Bleistifte und verabschiedete mich. Das war vor über anderthalb Jahren. Überflüssig zu sagen, dass ich weder je einen Bericht abgeschickt noch William gefunden habe. Sicher scheint fürs Erste nur, dass ich am Leben geblieben bin. Aber ich würde keine Wetten abschließen, wie lange noch.»
    «Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas Bestimmteres über William mitteilen», sagte ich. «So oder so.»
    Sam schüttelte den Kopf. «In dieser Stadt gibt es nichts Bestimmtes. In Anbetracht der Möglichkeiten sollten Sie froh darüber sein.»
    «Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben. Nicht bevor ich sicher bin.»
    «Das steht Ihnen frei. Aber ich hielte es nicht für klug, etwas anderes als das Schlimmste zu erwarten.»
    «Das hat der Rabbi mir auch gesagt.»
    «Jeder vernünftige Mensch würde Ihnen das sagen.»
    Sam sprach fahrig, in selbstironischem Ton, sprang so von einem Thema zum anderen, dass ich nur mit Mühe folgen konnte. Er machte auf mich den Eindruck eines Mannes am Rande des Zusammenbruchs – eines Mannes, der sich zu sehr geschunden hatte und kaum noch aufrecht stehen konnte. Er habe über dreitausend Seiten Notizen gesammelt, sagte er. Wenn er im gegenwärtigen Tempo weiterarbeite, glaube er die Vorarbeiten für das Buch in fünf bis sechs Monaten abschließen zu können. Nur gehe ihm allmählich das Geld aus, und die Chancen stünden wohl gegen ihn. Die Interviews könne er sich nicht mehr leisten, und angesichts des heiklen Tiefstands seiner Geldvorräte nehme er jetzt nur noch jeden zweiten Tag eine Mahlzeit zu sich. Das mache es natürlich nur umso schlimmer. Die Kräfte schwänden ihm, und manchmal sei er so benommen, dass er beim Schreiben die eigenen Worte nicht mehr sehen könne. Es komme vor, sagte er, dass er, ohne es zu merken, an seinem Schreibtisch einschlafe.
    «Sie werden sich noch umbringen, bevor Sie fertig sind», sagte ich. «Und wozu das Ganze? Sie sollten mit dem Buch aufhören und mal an sich selbst denken.»
    «Ich kann nicht aufhören. Das Buch ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält. Es hindert mich daran, über mich nachzudenken und von meinem eigenen Leben aufgefressen zu werden. Wenn ich die Arbeit daran je aufgäbe, wäre ich verloren. Ich glaube, ich würde das keinen einzigen Tag lang überleben.»
    «Aber niemand wird Ihr verfluchtes Buch lesen», sagte ich wütend. «Sehen Sie das denn nicht? Ganz gleich, wie viele Seiten Sie schreiben. Niemand wird es je zu Gesicht bekommen.»
    «Da irren Sie sich. Ich werde das Manuskript mit nach Hause zurücknehmen. Das Buch wird erscheinen, und jeder wird erfahren, was sich hier abspielt.»
    «Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden. Haben Sie nichts von dem Deichprojekt gehört? Es ist unmöglich, von hier wegzukommen.»
    «Über den Deich weiß ich Bescheid. Aber das ist nur eine Stelle. Es gibt andere, glauben Sie mir. Weiter oben an der Küste nach Norden zu. Dann im Westen durch die verlassenen Gebiete. Wenn es so weit ist, werde ich bereit sein.»
    «So lange werden Sie nicht durchhalten. Wenn dieser Winter vorbei ist, werden Sie zu gar nichts mehr bereit sein.»
    «Es wird sich schon was ergeben. Wenn nicht, nun, dann ist es mir ohnehin egal.»
    «Wie viel Geld haben Sie denn noch?»
    «Keine Ahnung. Dreißig oder fünfunddreißig Glots.»
    Ich war verdattert, als ich hörte, wie wenig es war. Auch wenn man jede denkbare Vorsorge traf und Geld nur ausgab, wenn es absolut

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