Im Land der letzten Dinge (German Edition)
notwendig war, würden dreißig Glots kaum drei bis vier Wochen reichen. Plötzlich begriff ich, in was für einer gefährlichen Lage Sam war. Er marschierte geradewegs auf seinen Tod zu und war sich dessen nicht einmal bewusst.
Dies löste mir unversehens die Zunge. Ich merkte gar nicht, was ich da sagte, bis ich mich reden hörte, aber da war es schon zu spät. «Ich habe etwas Geld», sagte ich. «Es ist nicht viel, aber viel mehr, als Sie haben.»
«Wie schön für Sie», sagte Sam.
«Sie verstehen mich nicht», gab ich zurück. «Wenn ich sage, dass ich Geld habe, meine ich, dass ich es mit Ihnen teilen möchte.»
«Teilen? Wieso denn das?»
«Um uns am Leben zu erhalten», sagte ich. «Ich brauche ein Dach überm Kopf, und Sie brauchen Geld. Wenn wir unsere Mittel zusammenlegen, haben wir vielleicht eine Chance, den Winter zu überleben. Wenn nicht, werden wir beide sterben. Daran ist wohl kaum zu rütteln. Wir werden sterben, und es ist dumm zu sterben, wenn man es nicht nötig hat.»
Die Unverblümtheit meiner Rede erschreckte uns beide, und wir waren einige Augenblicke lang sprachlos. Das alles war so krass, so grotesk, und doch war es mir irgendwie gelungen, die Wahrheit zu sagen. Zuerst wollte ich mich entschuldigen, aber je länger die Worte in der Luft zwischen uns schwebten, desto vernünftiger klangen sie, und es widerstrebte mir, sie zurückzunehmen. Ich glaube, wir wussten beide, was geschah, aber das machte es auch nicht einfacher, das nächste Wort auszusprechen. In ähnlichen Situationen haben Leute in dieser Stadt einander umgebracht. Es ist kaum der Rede wert, jemanden wegen eines Zimmers oder einer Handvoll Kleingeld umzubringen. Was uns vielleicht daran hinderte, übereinander herzufallen, war die schlichte Tatsache, dass wir hier beide fremd waren. Wir waren in dieser Stadt nicht zu Hause. Wir waren woanders aufgewachsen, und das allein gab uns vielleicht schon das Gefühl, ein wenig voneinander zu wissen. Ich bin nicht sicher. Der Zufall hatte uns auf höchst unpersönliche Weise zusammengeworfen, und das schien der Begegnung eine eigene Logik zu verleihen, ein Gewicht, das von uns beiden ganz unabhängig war. Ich hatte einen befremdlichen Vorschlag gemacht, einen Kopfsprung ins Vertrauliche, und Sam hatte kein Wort dazu gesagt. Die bloße Tatsache dieses Schweigens war außerordentlich, das spürte ich, und je länger es andauerte, desto nachdrücklicher schien es meine Worte zu bestätigen. Als es vorbei war, blieb nichts mehr zu besprechen übrig.
«Es ist furchtbar eng hier», sagte Sam und sah durch den winzigen Raum. «Wo willst du denn schlafen?»
«Spielt keine Rolle», sagte ich. «Wir werden uns was ausdenken.»
«William hat manchmal von dir erzählt», sagte er, und der Hauch eines Lächelns erschien in seinen Mundwinkeln. «Er hat mich sogar vor dir gewarnt. ‹Hüte dich vor meiner kleinen Schwester›, hat er gesagt. ‹Das ist ein Drachen.› Bist du das wirklich, Anna Blume, ein Drachen?»
«Ich weiß, was du denkst», sagte ich, «aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dich nicht stören. Schließlich bin ich nicht blöd. Ich kann lesen und schreiben. Und denken kann ich auch. Mit mir hier wird das Buch viel schneller fertig sein.»
«Ich mache mir keine Sorgen, Anna Blume. Du schneist hier aus der Kälte herein, pflanzt dich auf meinem Bett auf und bietest mir Reichtümer an – und da soll ich mir Sorgen machen?»
«Nun übertreib mal nicht. Es sind weniger als dreihundert Glots. Nicht mal zweihundertfünfundsiebzig.»
«Sag ich doch – Reichtümer.»
«Wenn du meinst.»
«Das meine ich. Und ich meine auch das: Es ist ein gottverdammtes Glück für uns, dass die Knarre nicht geladen war.»
Auf diese Weise überlebte ich den Schrecklichen Winter. Ich wohnte bei Sam in der Bibliothek, und in den nächsten sechs Monaten war dieses kleine Zimmer für mich der Mittelpunkt der Welt. Es wird dich wohl kaum schockieren, dass wir beide im selben Bett schliefen. Man hätte aus Stein sein müssen, um dem zu widerstehen, und als es schließlich in der dritten oder vierten Nacht geschah, fanden wir es beide töricht, so lange gewartet zu haben. Anfangs war es rein körperlich, ein wütendes Drängen und Verknäueln von Gliedern, eine Entladung aufgestauter Lust. Es war ein ungeheuer befreiendes Gefühl, und in den Tagen darauf gingen wir bis zur Erschöpfung aufeinander los. Dann legte sich das Tempo, das konnte ja nicht ausbleiben, und in den
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