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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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folgenden Wochen begann allmählich Liebe zwischen uns zu entstehen. Ich rede jetzt nicht bloß von Zärtlichkeiten oder der Wohltat des Zusammenlebens. Nein, wir verliebten uns tief und unwiderruflich, und am Ende war es, als wären wir verheiratet, als würden wir einander nie mehr verlassen.
    Das war die beste Zeit für mich. Nicht bloß hier, verstehst du, sondern überhaupt – die beste Zeit meines Lebens. Es ist seltsam, dass ich in dieser schrecklichen Zeit so glücklich sein konnte, aber das Leben mit Sam machte alles ganz anders. Äußerlich änderte sich nicht viel. Der Überlebenskampf blieb derselbe, die täglichen Probleme blieben dieselben, aber jetzt war mir die Möglichkeit zur Hoffnung gegeben worden, und ich begann daran zu glauben, dass unsere Schwierigkeiten früher oder später einmal ein Ende haben würden. Sam wusste mehr von der Stadt als alle anderen, die ich jemals getroffen hatte. Er konnte sämtliche Regierungen der vergangenen zehn Jahre auswendig hersagen; er wusste die Namen von Gouverneuren, Bürgermeistern und zahllosen kleineren Funktionären; er konnte die Geschichte der Zöllner erzählen, den Bau der Kraftwerke beschreiben und noch über die kleinsten Sekten detaillierte Auskünfte geben. Dass er so vieles wusste und unsere Chance, hier herauszukommen, dennoch zuversichtlich beurteilte – das war es, was mich überzeugte. Sam war kein Mann, der die Tatsachen verdrehte. Es war schließlich Journalist, und er war darin geübt, die Welt mit Skepsis zu betrachten. Kein Wunschdenken, keine verschwommenen Vorstellungen. Wenn er sagte, es sei möglich für uns, nach Hause zurückzukehren, dann wusste er auch, dass es möglich war.
    Grundsätzlich war Sam wohl kaum ein Optimist, kaum das, was man einen unbekümmerten Menschen nennen würde. Immerzu brodelte so etwas wie Wut in ihm, sogar im Schlaf schien er gequält, wälzte sich unter den Decken herum, als kämpfte er in seinen Träumen mit jemandem. Als ich bei ihm einzog, war er in schlechter Verfassung, unterernährt, ständig hustend, und es dauerte über einen Monat, bis er wieder einem halbwegs gesunden Menschen glich. Bis dahin machte ich fast die ganze Arbeit allein. Ich ging Essen einkaufen, ich leerte die Eimer aus, ich kochte unsere Mahlzeiten und hielt das Zimmer sauber. Als Sam später wieder kräftig genug war, um der Kälte zu trotzen, schlüpfte er morgens immer aus dem Bett, um die Hausarbeiten selbst zu machen, und bestand darauf, dass ich liegenblieb und meinen Schlaf nachholte. Sam besaß wirklich einen guten Riecher für Aufmerksamkeiten – und seine Liebe war anständig, viel anständiger, als ich mir je die Liebe eines anderen erträumt hatte. Wenn ihn seine Angstzustände auch zuweilen von mir entfernten, so waren sie doch eine innerliche Angelegenheit. Das Buch blieb seine Leidenschaft, und er neigte dazu, sich zu sehr damit abzuschinden, über den Rahmen des Erträglichen hinaus daran zu arbeiten. Angesichts der Notwendigkeit, all das von ihm gesammelte verstreute Material zu einem zusammenhängenden Ganzen ordnen zu müssen, begann er manchmal den Glauben an das Projekt zu verlieren. Dann nannte er es plötzlich wertlos, einen nutzlosen Haufen Papier, der Dinge ausdrücken sollte, die sich nicht sagen ließen, worauf er regelmäßig in Depressionen verfiel, die ein bis drei Tage anhielten. Diesen finsteren Stimmungen folgten unweigerlich Phasen extremer Zärtlichkeit. Dann kaufte er mir kleine Geschenke – einen Apfel zum Beispiel, oder ein Band für mein Haar, oder ein Stück Schokolade. Wahrscheinlich war es nicht richtig, dieses zusätzliche Geld auszugeben, aber es fiel mir schwer, von diesen Gesten nicht gerührt zu sein. Ich war immer die Praktische, die nüchterne Hausfrau, die ängstlich knauserte, aber wenn Sam mit irgendeinem solchen Luxusartikel hereinkam, war ich zutiefst gerührt, vollkommen außer mir vor Freude. Ich kam nicht dagegen an. Ich hatte es nötig zu wissen, dass er mich liebte, und wenn das bedeutete, dass uns das Geld ein wenig früher ausgehen würde, war ich bereit, diesen Preis zu zahlen.
    Wir beide entwickelten eine Leidenschaft für Zigaretten. Tabak ist hier schwer und, wenn überhaupt, nur furchtbar teuer zu bekommen, aber Sam hatte im Verlauf der Recherchen für sein Buch eine Reihe von Verbindungen zum schwarzen Markt geknüpft und war daher oft in der Lage, Päckchen mit zwanzig Stück für den Spottpreis von einem oder anderthalb Glots aufzutreiben. Ich rede von echten,

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