Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Geschwätz anhörte –, aber ich befolgte Sams Rat und ließ mich mit keinem von ihnen näher ein, sondern blieb freundlich, aber reserviert auf Distanz.
Der einzige Mensch, mit dem ich außer Sam noch sprach, war der Rabbi. Während des ersten Monats besuchte ich ihn bei jeder Gelegenheit – in einer freien Stunde am späten Nachmittag zum Beispiel oder in einem der seltenen Augenblicke, wenn Sam ganz in sein Buch vertieft war und alle Hausarbeiten erledigt waren. Oft war der Rabbi mit seinen Schülern beschäftigt, deshalb hatte er nicht immer Zeit für mich, aber es gelang uns doch, mehrere gute Gespräche zu führen. Woran ich mich am besten erinnere, war eine Bemerkung, die er bei meinem letzten Besuch machte. Ich fand sie damals so verblüffend, dass ich seither ständig darüber nachgedacht habe. Jeder Jude, sagte er, glaubt der letzten Generation der Juden anzugehören. Wir sind immer am Ende, stehen immer am Rand des letzten Augenblicks, und warum sollten wir uns jetzt einbilden, es verhielte sich anders? Vielleicht erinnere ich mich deswegen so gut an diese Worte, weil ich ihn nach dieser Unterhaltung nie wiedergesehen habe. Als ich das nächste Mal in den zweiten Stock hinunterstieg, war der Rabbi fort, und ein anderer Mann hatte sich in dem Zimmer eingerichtet – ein dünner Kahlkopf mit Drahtbrille. Er saß an dem Tisch und schrieb wie wild in ein Notizbuch, umgeben von Zeitungsstapeln und Gegenständen, die wie menschliche Knochen und Schädel aussahen. Als ich das Zimmer betrat, sah er mit verärgerter, ja feindseliger Miene zu mir auf.
«Schon mal was von Anklopfen gehört?», fragte er.
«Ich suche den Rabbi.»
«Der Rabbi ist weg», sagte er unwillig, spitzte die Lippen und starrte mich an, als wäre ich ein Idiot. «Die Juden sind vor zwei Tagen alle entfernt worden.»
«Wovon reden Sie?»
«Die Juden sind vor zwei Tagen entfernt worden», wiederholte er und stieß einen angewiderten Seufzer aus. «Morgen sind die Jansenisten dran, und die Jesuiten sind am Montag fällig. Wissen Sie denn gar nichts?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie reden.»
«Von den neuen Gesetzen. Religiöse Gruppierungen haben ihren akademischen Status verloren. Unfassbar, wie jemand so unwissend sein kann.»
«Deswegen brauchen Sie nicht so gehässig zu sein. Wer sind Sie denn eigentlich?»
«Mein Name ist Dujardin», sagte er. «Henri Dujardin. Ich bin Ethnograph.»
«Und dieses Zimmer gehört jetzt Ihnen?»
«Ganz recht. Dies ist mein Zimmer.»
«Was ist mit den ausländischen Journalisten? Hat sich deren Status auch verändert?»
«Keine Ahnung. Das geht mich nichts an.»
«Aber diese Knochen und Schädel gehen Sie wohl was an.»
«Das stimmt. Ich bin dabei, sie zu analysieren.»
«Von wem stammen sie?»
«Von anonymen Leichen. Leute, die erfroren sind.»
«Wissen Sie, wo der Rabbi jetzt ist?»
«Auf dem Weg ins Gelobte Land, nehme ich an», sagte er sarkastisch. «Gehen Sie jetzt bitte. Sie haben meine Zeit lange genug beansprucht. Ich habe Wichtiges zu tun, und ich lasse mich nicht gerne stören. Danke. Und vergessen Sie nicht, beim Hinausgehen die Tür zu schließen.»
Sam und ich hatten unter diesen Gesetzen letztlich nicht zu leiden. Die Regierung war durch das Misslingen des Deichprojekts bereits angeschlagen, und ehe man sich dem Problem der ausländischen Journalisten zuwenden konnte, kam schon ein neues Regime an die Macht. Die Vertreibung der religiösen Gruppierungen war nichts als eine absurde und verzweifelte Machtdemonstration gewesen, eine willkürliche Attacke auf Menschen, die sich nicht wehren konnten. Die völlige Sinnlosigkeit dieser Aktion bestürzte mich und machte mir das Verschwinden des Rabbi noch unerträglicher. Du siehst, wie es in diesem Land zugeht. Alles verschwindet, Menschen ebenso unausweichlich wie Dinge, die Lebenden zusammen mit den Toten. Ich betrauerte den Verlust meines Freundes, schon der Gedanke daran erdrückte mich. Ich konnte mich nicht einmal mit der Gewissheit seines Todes trösten – ich sah mich nur vor einer Leere, einem gefräßigen Nichts.
In der Folge wurde Sams Buch das Wichtigste in meinem Leben. Solange wir daran weiterarbeiteten, das erkannte ich, konnten wir die Vorstellung von einer möglichen Zukunft aufrechterhalten. Sam hatte mir dies schon am ersten Tag klarzumachen versucht, aber erst jetzt begriff ich es so richtig. Ich erledigte alles, was zu tun war – Seiten einteilen, Interviews redigieren, Endfassungen
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