Im Land der letzten Dinge (German Edition)
altmodischen Zigaretten, die in Fabriken hergestellt werden und in buntes Papier und Cellophan verpackt sind. Die von Sam erworbenen waren aus den diversen ausländischen Hilfsschiffen gestohlen worden, die früher hier angelegt hatten, und die Markennamen darauf waren meist in Sprachen aufgedruckt, die wir nicht einmal lesen konnten. Wir rauchten sie immer erst, wenn es dunkel war; dann lagen wir auf dem Bett und sahen durch das große fächerförmige Fenster, betrachteten den Himmel und das Hin und Her an ihm, die über den Mond treibenden Wolken, die winzigen Sterne, die von oben herabstürzenden Schneestürme. Wir bliesen den Rauch aus unseren Mündern, sahen ihn durchs Zimmer schweben und Schatten an die Wand gegenüber werfen, die sich auflösten, kaum dass sie entstanden waren. In alldem lag etwas schön Vergängliches, etwas Schicksalhaftes, das uns mit sich in unbekannte Winkel des Vergessens zog. Wir sprachen dann oft von zu Hause, beschworen alle möglichen Erinnerungen herauf, gedachten noch der kleinsten, speziellsten Bilder mit einer Art wohliger Bezauberung – der Ahornbäume an der Miro Avenue im Oktober, der Uhren mit den römischen Ziffern in den Schulzimmern, der leuchtend grünen Drachen in dem Chinarestaurant gegenüber der Universität. Wir konnten diese Dinge, die unzähligen Details einer Welt, die wir beide seit unserer Kindheit kannten, gemeinsam genießen, und das trug wohl mit dazu bei, dass wir den Mut nicht sinken ließen und den Glauben bewahrten, wir würden eines Tages zu alldem zurückkehren können.
Ich weiß nicht, wie viele Menschen zu der Zeit in der Bibliothek lebten, aber es dürften gut über hundert gewesen sein, vielleicht sogar noch mehr. Die Bewohner waren ausschließlich Wissenschaftler und Schriftsteller, Überlebende der Säuberungswelle, die im Verlauf der Tumulte des vergangenen Jahrzehnts stattgefunden hatte. Sam zufolge hatte die nächste Regierung dann eine Politik der Toleranz eingeleitet und die Wissenschaftler in einer Reihe von öffentlichen Gebäuden im ganzen Stadtgebiet untergebracht – in der Turnhalle der Universität, einem verlassenen Krankenhaus, der Nationalbibliothek. Dieses Wohnungsprogramm war voll subventioniert (was die Anwesenheit des gusseisernen Ofens in Sams Zimmer und die wundersam funktionierenden Spülen und Toiletten im fünften Stock erklärte) und wurde schließlich auch noch auf eine Anzahl religiöser Gruppierungen und ausländischer Journalisten ausgedehnt. Als zwei Jahre später die nächste Regierung an die Macht kam, wurde diese Politik jedoch eingestellt. Die Wissenschaftler wurden zwar nicht aus ihren Behausungen vertrieben, erhielten aber keinerlei staatliche Unterstützung mehr. Die Verlustrate war begreiflicherweise hoch, da viele Wissenschaftler durch die Umstände gezwungen waren, auszuziehen und sich nach anderen Beschäftigungen umzusehen. Diejenigen, die blieben, hatte man so ziemlich sich selbst überlassen; die zahlreichen Regierungen, die nacheinander an die Macht kamen, übersahen sie einfach. Zwischen den verschiedenen Parteien in der Bibliothek hatte sich eine gewisse argwöhnische Kameradschaft entwickelt, zumindest insoweit, als viele von ihnen bereit waren, miteinander zu reden und Ideen auszutauschen. Das erklärte die Gruppen, die ich am ersten Tag in der Vorhalle gesehen hatte. Jeden Morgen fand ein zweistündiges öffentliches Kolloquium statt – die sogenannten Peripathetischen Stunden –, zu dem jeder, der in der Bibliothek lebte, eingeladen war. Auf einer dieser Sitzungen hatte Sam Isaac kennengelernt, obwohl er sich ansonsten von ihnen fernhielt, da ihn die Wissenschaftler, außer als Phänomen an sich, nicht sonderlich interessierten – stellten sie doch nur einen Aspekt des Lebens in der Stadt dar. Die meisten von ihnen gingen reichlich esoterischen Beschäftigungen nach: Sie suchten in der klassischen Literatur nach Parallelen zu aktuellen Ereignissen, erstellten statistische Analysen zur Bevölkerungsentwicklung, kompilierten ein neues Wörterbuch und so weiter. Sam hatte für dergleichen keine Verwendung, versuchte aber mit allen in gutem Einvernehmen zu bleiben, da er wusste, wie tückisch Wissenschaftler werden können, wenn sie das Gefühl haben, dass man sich über sie lustig macht. Viele von ihnen lernte ich mehr oder weniger zufällig kennen – wenn ich mit meinem Eimer an der Spüle im fünften Stock in der Schlange stand, wenn ich mit den Frauen Essenstipps austauschte und mir das
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