Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Ansprüche man auch stellen mochte, Woburn House war ein Refugium, eine idyllische Zuflucht vor dem Elend und dem Schmutz, die es umgaben. Man sollte meinen, dass jemand, der die Chance erhält, ein paar Tage an einem solchen Ort zu verbringen, jede Sekunde genießen würde, aber dies schien nicht immer zuzutreffen. Die meisten waren natürlich dankbar, die meisten erkannten an, was da für sie getan wurde, doch manche andere kamen nur schwer damit zurecht. Oft gab es unter den Gästen Streitigkeiten, die offenbar von so ziemlich allem ausgelöst werden konnten: wie jemand sein Essen einnahm oder in der Nase bohrte, wie jemand eine abweichende Meinung verteidigte, wie jemand hustete oder schnarchte, wenn alle anderen zu schlafen versuchten – all die kleinlichen Zänkereien, die sich ergeben, wenn Leute sich plötzlich unter einem Dach zusammenfinden. Daran ist nichts Ungewöhnliches, nehme ich an, aber ich fand das immer ziemlich erbärmlich, eine traurige und lächerliche kleine Farce, die da wieder und wieder inszeniert wurde. Fast alle Gäste in Woburn House hatten lange Zeit auf der Straße gelebt. Vielleicht war der Kontrast zwischen jenem und diesem Leben ein zu großer Schock für sie. Man gewöhnt sich daran, auf sich selbst aufzupassen, nur an sein eigenes Wohlergehen zu denken, und dann wird einem plötzlich gesagt, man habe mit einem Haufen von Fremden zusammenzuarbeiten, mit genau der Sorte von Leuten, denen zu misstrauen man sich eingetrichtert hat. Und wenn man weiß, dass man in ein paar Tagen wieder auf der Straße sein wird, ist es da wirklich der Mühe wert, deswegen seine Persönlichkeit umzukrempeln?
Andere Gäste wirkten geradezu enttäuscht von dem, was sie in Woburn House fanden. Das waren die, die so lange auf Einlass gewartet hatten, dass ihre Erwartungen bis in den Himmel gewachsen waren – ihnen dünkte Woburn House das Paradies auf Erden, das Ziel aller Sehnsüchte, die sie je empfunden hatten. Die Vorstellung, dort wohnen zu dürfen, hatte sie von einem Tag zum andern durchhalten lassen, aber wenn sie dann tatsächlich hineingelangt waren, konnte die Enttäuschung nicht ausbleiben. Schließlich betraten sie kein Wunderland. Woburn House war ein reizender Ort, aber es lag nichtsdestoweniger in der wirklichen Welt, und was man dort antraf, war auch nur Leben – ein besseres Leben, mag sein, aber doch nichts anderes als das, was man schon immer gekannt hatte. Bemerkenswert daran war, wie schnell sich alle an den dort gebotenen materiellen Komfort gewöhnten – die Betten und Duschen, das gute Essen und die sauberen Kleider, die Chance, einmal nichts zu tun. Nach zwei oder drei Tagen in Woburn House konnten Männer und Frauen, die zuvor aus Mülltonnen gegessen hatten, mit der ganzen Gelassenheit und Beherrschung fetter Mittelstandsbürger zu einem großen Festschmaus an einem verführerisch gedeckten Tisch Platz nehmen. Vielleicht ist das gar nicht so seltsam, wie es scheint. Wir alle nehmen manches für selbstverständlich, und wenn es um so grundlegende Dinge wie Essen und Obdach geht, um Dinge, auf die wir wahrscheinlich einen natürlichen Anspruch haben, dann dauert es nicht lange, bis wir sie als unveräußerlichen Bestandteil unserer selbst betrachten. Nur wenn wir sie verlieren, merken wir überhaupt, dass wir sie besessen haben. Sobald wir sie wiederbekommen, bemerken wir sie auch schon nicht mehr. Das war das Problem der Leute, die sich von Woburn House enttäuscht fühlten. Sie hatten so lange mit der Entbehrung gelebt, dass sie an gar nichts anderes mehr denken konnten, aber kaum war ihnen das einst Verlorene zurückgegeben worden, stellten sie mit Erstaunen fest, dass sich fast gar nichts verändert hatte. Ihre Bäuche waren jetzt zwar gefüllt, aber sonst war alles ganz und gar beim Alten geblieben.
Wir wiesen die Leute stets sorgfältig auf die Schwierigkeiten des letzten Tages hin, aber ich glaube kaum, dass unser Rat jemals jemandem sonderlich genützt hat. Man kann sich auf so etwas nicht einstellen, und nie war es uns möglich vorauszusagen, wer im entscheidenden Moment zurückschrecken würde und wer nicht. Manche vermochten den Abschied ohne Trauma zu überstehen, andere konnten sich einfach nicht damit abfinden. Sie litten entsetzlich unter der Vorstellung, wieder auf die Straße zurückzumüssen – besonders die Freundlichen, die Sanften, diejenigen, die unsere Hilfe am meisten zu schätzen wussten –, und manchmal fragte ich mich ernsthaft, ob es das
Weitere Kostenlose Bücher