Im Land der letzten Dinge (German Edition)
weltverbesserischen Atmosphäre des Hauses ein wenig unbehaglich – der Idee, Fremden zu helfen, sich für eine Sache aufzuopfern. Das Prinzip war mir zu abstrakt, zu ernst, zu altruistisch. An Sams Buch hatte ich glauben können, aber Sam war auch mein Geliebter gewesen, mein Leben, und ich fragte mich, ob ich es über mich bringen würde, mich Leuten zu widmen, die ich gar nicht kannte. Victoria bemerkte mein Widerstreben, stritt aber nicht mit mir und versuchte auch nicht, mich zu überzeugen. Ich glaube, mehr als alles andere hat mich diese ihre Zurückhaltung dazu gebracht, den Vorschlag anzunehmen. Sie schwang keine großartigen Reden und wollte mir auch nicht etwa suggerieren, dass ich damit meine Seele retten könnte. Sie sagte einfach: «Hier ist eine Menge Arbeit zu tun, Anna, mehr Arbeit, als wir zu leisten je hoffen können. Ich habe keine Ahnung, wie sich das bei dir auswirken wird, aber manchmal lassen sich gebrochene Herzen durch Arbeit heilen.»
Die tägliche Arbeit war endlos und zermürbend. Eher eine Ablenkung als ein Heilmittel, aber alles, was den Schmerz dämpfte, war mir willkommen. Wunder erwartete ich nach alldem nicht mehr. Meinen diesbezüglichen Vorrat hatte ich bereits aufgebraucht, und ich wusste, von nun an wäre alles nur noch Nachschlag – eine grauenhafte, postume Art von Leben, ein Leben, das weiterhin mit mir geschehen würde, obwohl es längst beendet war. Der Schmerz also legte sich nicht. Doch ganz allmählich begann ich zu merken, dass ich weniger weinte, dass ich abends vorm Einschlafen nicht mehr unbedingt das Kopfkissen durchnässte, und einmal fiel mir sogar auf, dass es mir gelungen war, drei Stunden hintereinander nicht an Sam zu denken. Das waren kleine Triumphe, gebe ich zu, doch angesichts meiner damaligen Lage war mir nicht danach, darüber zu spotten.
Im Parterre gab es sechs Zimmer mit jeweils drei oder vier Betten. Im ersten Stock befanden sich zwei Privaträume, die schwierigen Fällen vorbehalten waren; in einem davon hatte ich meine ersten Wochen in Woburn House verbracht. Nachdem ich zu arbeiten begonnen hatte, bekam ich mein eigenes Schlafzimmer im dritten Stock. Am Ende des Flurs lag Victorias Zimmer, und Frick und Willie bewohnten einen großen Raum unmittelbar darüber. Eine weitere Angestellte lebte unten in einem Raum gleich neben der Küche. Dies war Maggie Vine, eine Taubstumme undefinierbaren Alters, die als Köchin und Waschfrau diente. Sie war sehr klein, hatte dicke, stämmige Schenkel und ein breites Gesicht unter einem Dschungel roter Haare. Abgesehen von den Unterredungen, die sie mit Victoria in der Zeichensprache führte, pflog sie mit niemandem Kontakt. Sie erledigte ihre Arbeit in einer Art mürrischer Trance, führte zäh und tatkräftig jeden Auftrag aus, der ihr gegeben wurde, und schuftete so lange, dass ich mich fragte, ob sie jemals zu Bett ginge. Nur selten grüßte sie mich oder nahm überhaupt Notiz von mir, doch gelegentlich, wenn wir zufällig einmal allein miteinander waren, klopfte sie mir auf die Schulter, grinste von einem Ohr zum anderen und führte mir dann die kunstvolle Pantomime einer ariensingenden Operndiva vor – theatralische Gesten und bebende Kehle inbegriffen. Am Ende verbeugte sie sich, nahm huldvoll den Jubel ihres imaginären Publikums entgegen und wandte sich abrupt wieder ihrer Arbeit zu, ohne Pause oder Übergang. Es war vollkommen verrückt. Sechs- oder siebenmal ist das wohl geschehen, aber ich kam nie dahinter, ob sie mich damit amüsieren oder erschrecken wollte. In all den Jahren, die sie dort gewesen sei, sagte Victoria, habe Maggie nie für jemand anderen gesungen.
Sämtliche Gäste, wie wir sie nannten, mussten gewisse Bedingungen akzeptieren, bevor sie in Woburn House aufgenommen wurden. Keine Schlägereien oder Diebstähle, zum Beispiel, und Teilnahme an den Hausarbeiten: sein Bett machen, nach dem Essen seinen Teller in die Küche bringen, und so weiter. Dafür erhielten die Gäste Kost und Logis, neue Kleidung, Gelegenheit zu täglichem Duschen und unbeschränkte Freiheit in der Benutzung der Einrichtungen. Hierzu gehörten der Salon im Parterre – eingerichtet mit einer Reihe von Sofas und Lehnsesseln, einer gutsortierten Bibliothek und verschiedenen Spielen (Karten, Bingo, Backgammon) – und der Hof hinter dem Haus, ein bei gutem Wetter ausgesprochen angenehmer Aufenthaltsort. Am hinteren Ende gab es ein Krocketfeld, ein Badmintonnetz und eine beträchtliche Anzahl Liegestühle. Welche
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