Im Land der letzten Dinge (German Edition)

anderes. Sie sehnte sich nach jemandem, mit dem sie reden konnte, und als meine Kräfte allmählich wieder zurückkehrten, kam sie häufiger nach oben, um mich zu besuchen. Seit dem Tod ihres Vaters war sie ständig mit Frick und Willie allein gewesen, hatte die Unterkunft geleitet und die Geschäfte besorgt, ohne dabei jemanden zu haben, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte. Nach und nach schien ich diese Stelle einzunehmen. Es fiel uns nicht schwer, miteinander zu reden, und als unsere Freundschaft sich entwickelte, merkte ich, wie vieles wir gemeinsam hatten. Sicher, ich stammte nicht aus solch wohlhabenden Verhältnissen wie Victoria, aber ich hatte eine unbeschwerte Kindheit gehabt, voller bourgeoiser Pracht und Privilegien, und ich war in dem Gefühl aufgewachsen, dass alle meine Wünsche im Bereich des Möglichen lägen. Ich hatte gute Schulen besucht und war in der Lage, über Bücher zu reden. Ich kannte den Unterschied zwischen einem Beaujolais und einem Bordeaux, und ich wusste, warum Schubert ein bedeutenderer Musiker war als Schumann. Wenn man bedenkt, in was für eine Welt Victoria in Woburn House hineingeboren war, dürfte ich von allen Leuten, die sie in den letzten Jahren kennengelernt hatte, noch am ehesten ihrer Klasse zugehört haben. Damit will ich nicht andeuten, Victoria wäre ein Snob gewesen. Geld als solches interessierte sie nicht, und von den Dingen, die es repräsentierte, hatte sie sich längst abgewandt. Aber wir redeten dieselbe Sprache, und wenn sie mir von ihrer Vergangenheit erzählte, verstand ich sie, ohne um Erklärungen bitten zu müssen.
    Sie war zweimal verheiratet gewesen – einmal kurz, eine «glänzende gesellschaftliche Partie», wie sie es sarkastisch ausdrückte, und dann mit einem gewissen Tommy, dessen Nachnamen sie aber nie erwähnte. Anscheinend ein Rechtsanwalt, mit dem sie zwei Kinder gehabt hatte, ein Mädchen und einen Jungen. Als die Unruhen ausbrachen, zog es ihn immer stärker in die Politik, wo er zunächst als Staatssekretär bei der Grünen Partei (damals wurden hier alle politischen Zugehörigkeiten mit Farben bezeichnet) und später, nachdem die Blaue Partei die Mitglieder seiner Organisation in einem strategischen Bündnis vereinnahmt hatte, als kommunaler Koordinator für den Westteil der Stadt arbeitete. Vor elf oder zwölf Jahren, zur Zeit der ersten Anti-Zöllner-Aufstände, geriet er in einen der Krawalle am Nero Prospect und wurde von einer Polizeikugel tödlich getroffen. Nach Tommys Tod drängte ihr Vater sie, das Land mit den Kindern (damals gerade drei und vier Jahre alt) zu verlassen, aber Victoria weigerte sich. Statt dessen schickte sie sie zusammen mit Tommys Eltern nach England. Sie wollte sich nicht zu den Leuten zählen lassen, die aufgegeben und sich davongemacht hätten, sagte sie, aber genauso wenig wollte sie ihre Kinder der unausweichlich heraufziehenden Katastrophe ausgesetzt wissen. Ich finde, es gibt Entscheidungen, zu denen ein Mensch niemals gezwungen werden sollte, Entscheidungen, die einem einfach eine zu große Last auferlegen. Wozu immer man sich entschließt, man wird es bereuen, und zwar bis an sein Lebensende. Die Kinder zogen nach England, und in den nächsten ein bis zwei Jahren gelang es Victoria noch, brieflichen Kontakt zu ihnen zu halten. Dann begann das Postwesen zusammenzubrechen. Nachrichten trafen nur noch sporadisch und unvorhersehbar ein – ein ewiges, qualvolles Warten, wie auf blindlings ins Meer geworfene Botschaften – und schließlich kam überhaupt nichts mehr. Das war acht Jahre her. Seither war kein einziges Wort mehr herübergedrungen, und Victoria hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder von ihnen zu hören.
    Ich erwähne diese Dinge, um dir die Ähnlichkeiten zwischen unseren Erfahrungen zu verdeutlichen, die Gemeinsamkeiten, die unsere Freundschaft mit entstehen ließen. Die Menschen, die sie liebte, waren aus ihrem Leben auf ebenso schreckliche Weise verschwunden wie die, die ich liebte, aus meinem verschwunden waren. Unsere Ehemänner und Kinder, ihr Vater und mein Bruder – sie alle waren in den Tod oder ins Ungewisse gegangen. Als ich dann wieder gehen konnte (aber wohin hätte ich wohl gehen sollen?), schien es daher nur natürlich, dass sie mich einlud, in Woburn House zu bleiben und dort mitzuarbeiten. Dies war keine Lösung, die ich mir hätte wünschen können, aber unter den gegebenen Umständen sah ich keinen anderen Ausweg. Ich fühlte mich in der