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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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niemand von ihnen die Arbeit des Arztes übernehmen konnte. Victoria und Mr. Frick waren beide fähige Krankenpfleger, aber das hieß noch lange nicht, dass sie in der Lage waren, Diagnosen zu stellen oder Behandlungen zu verschreiben. Ich glaube, das erklärt mit, warum sie mir eine so besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden ließen. Von allen Verletzten, die seit dem Tod des Arztes eingeliefert worden waren, war ich die erste, die auf ihre Pflege angesprochen hatte, die erste, die Zeichen von Genesung gezeigt hatte. In diesem Sinne diente ich zur Rechtfertigung ihres Entschlusses, Woburn House fortzuführen. Ich war ihr Aushängeschild, das glänzende Vorzeigestück für das, was sie noch zu leisten imstande waren, und aus diesem Grund verhätschelten sie mich so lange, wie ich es nötig zu haben schien, verwöhnten mich in meinen finsteren Stimmungen und machten mir alle möglichen Zugeständnisse.
    Mr. Frick glaubte wirklich, ich wäre von den Toten auferstanden. Er hatte sehr lange für den Arzt gearbeitet (einundvierzig Jahre, erzählte er mir) und mehr Leben und Tod aus der Nähe gesehen als die meisten anderen. Wenn man ihm glauben durfte, hatte es einen Fall wie den meinen noch nie gegeben. «Sie war’n schon in der andern Welt! Ich habe mit meinen eigenen Augen geseht. Sie war’n tot, und dann sind Sie aufgewacht lebendig.» Mr. Frick hatte eine merkwürdig fehlerhafte Art zu reden, und oft brachte er seine Ideen durcheinander, wenn er sie auszudrücken versuchte. Dies hatte aber wohl nichts mit seinem Geisteszustand zu tun – sondern lag schlicht daran, dass die Worte ihm zu schaffen machten. Er hatte Schwierigkeiten, sie um seine Zunge herumzumanövrieren, und manchmal stolperte er darüber, als wären es feste Gegenstände, buchstäblich Steine, die ihm den Mund verstopften. Eben deshalb schien er besonders empfänglich für die inneren Werte der Worte selbst: ihren Klang, losgelöst von ihrer Bedeutung, ihre Symmetrie und Widersprüche. «Wörter sagen mir, was ich wissen muss», erklärte er mir einmal. «Deswegen bin ich so alt geworden. Denn mein Name ist Otto. Der ist vor- und rückwärts derselbe. Ich höre nirgendwo auf, sondern fange an beiden Seiten an. Auf diese Weise lebe ich zweimal, doppelt so lange wie sonst keiner. Sie auch, Miss. Sie haben einen Namen wie meiner. A-n-n-a. Vor- und rückwärts gleich, genau wie ich mit Otto. Deswegen sind Sie wiedergeboren. Das war ein Glückszufall, Miss Anna. Sie war’n tot, und ich sehte Sie wiedergeboren mit meinen eigenen Augen. Das war ein ganz großer Glückszufall.»
    Mit seiner hageren, dornenhaften Steifheit und seinen elfenbeinfarbenen Wangen hatte dieser Alte etwas charmant Stures an sich. Seine Treue zu Dr. Woburn war unerschütterlich, und selbst jetzt noch wartete er den Wagen, den er für ihn gelenkt hatte – einen uralten, sechszylindrigen Pierce Arrow mit Trittbrettern und ledergepolsterten Sitzen. Dieses schwarze, fünfzig Jahre alte Automobil war die einzige Caprice des Arztes gewesen, und jeden Dienstagabend, ganz gleich was sonst noch zu tun sein mochte, ging Frick in die Garage hinter dem Haus und putzte und polierte mindestens zwei Stunden an dem Wagen herum, um ihn für die mittwochnachmittäglichen Rundfahrten in den bestmöglichen Zustand zu versetzen. Er hatte den Motor für den Betrieb mit Methangas umgerüstet, und hauptsächlich dieser Geschicklichkeit seiner Hände war es wohl zu verdanken, dass Woburn House überhaupt noch in Schuss war. Er hatte Wasserleitungen repariert, Duschen installiert, einen neuen Brunnen abgeteuft. Auf Grund dieser und verschiedener anderer Verbesserungen hatte das Haus auch in den härtesten Zeiten seine Funktion ausüben können. Sein Enkel Willie ging ihm bei all diesen Unternehmungen zur Hand, folgte ihm schweigend von einer Verrichtung zu anderen, eine mürrische, verwachsene kleine Gestalt in einem grünen Sweatshirt mit Kapuze. Frick hegte den Plan, dem Jungen so viel beizubringen, dass er nach seinem Tod seine Stelle übernehmen könnte, aber Willie schien über keine sonderlich rasche Auffassungsgabe zu verfügen. «Kein Grund zur Sorge», bemerkte Frick in diesem Zusammenhang einmal zu mir. «Wir arbeiten Willie langsam ein. Damit hat es keine Eile. Wenn ich mal ins Gras beißen muss, ist der Junge auch schon ein alter Mann.»
    Am meisten jedoch kümmerte Victoria sich um mich. Ich erwähnte schon, wie sehr ihr meine Genesung am Herzen lag, aber ich glaube, dahinter steckte noch etwas

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