Im Land der letzten Dinge (German Edition)
versicherte er mir, er sei in der Stadt geboren und habe sein ganzes Leben dort verbracht. Ein andermal, als habe er seine frühere Geschichte vergessen, erzählte er mir, er sei als ältester Sohn russischer Emigranten in Paris geboren. Und beim nächsten Mal wechselte er den Kurs aufs neue und gestand mir, Boris Stepanovich sei gar nicht sein richtiger Name. Auf Grund gewisser unerfreulicher Schwierigkeiten mit der türkischen Polizei in seiner Jugend habe er eine andere Identität angenommen. Seither habe er seinen Namen so oft gewechselt, dass er sich an den richtigen nicht mehr erinnern könne. Wozu auch, sagte er. Ein Mann muss von Augenblick zu Augenblick leben, und wen interessiert es, wer man im letzten Monat war, wenn man weiß, wer man heute ist? Ursprünglich, sagte er, sei er Algonkin-Indianer gewesen, aber nach dem Tod seines Vaters habe seine Mutter einen russischen Grafen geheiratet. Er selbst war nie verheiratet gewesen, beziehungsweise dreimal – je nachdem welche Version ihm gerade zupasskam. Wann immer Boris Stepanovich eine seiner Privathistorien vom Stapel ließ, wollte er damit irgendetwas beweisen – als hätte er, indem er sich auf seine Erfahrungen berief, bei jedem beliebigen Thema die letzte Autorität für sich beanspruchen können. Aus diesem Grund hatte er auch jede erdenkliche Beschäftigung ausgeübt, vom bescheidensten Handwerk bis zur höchsten Führungsposition. Er war Tellerwäscher gewesen und Jongleur, Autoverkäufer, Literaturprofessor, Taschendieb, Grundstücksmakler, Zeitungsherausgeber und Manager eines großen, auf Damenmoden spezialisierten Einzelhandelshauses. Ich habe zweifellos noch einiges vergessen, aber du kannst dir wohl schon ein Bild machen. Boris Stepanovich erwartete nie ernstlich, dass man ihm glaubte, betrachtete seine Erfindungen aber gleichzeitig durchaus nicht als Lügen. Sie waren Teil einer nahezu unbewussten Absicht, sich selbst eine erfreulichere Welt zu konstruieren – eine Welt, die je nach seinen Launen ihr Aussehen verändern konnte, die nicht denselben Regeln und öden Notwendigkeiten unterworfen war, von denen wir anderen niedergedrückt wurden. Wenn dies ihn auch nicht gerade zu einem Realisten im strengen Sinn des Wortes machte, war er andererseits auch nicht der Mann, der sich selbst täuschte. Boris Stepanovich war nicht ganz der augenzwinkernde Aufschneider, als der er auftrat, und hinter seiner Prahlerei und Herzlichkeit steckte immer auch noch etwas anderes – ein scharfes Gespür vielleicht, eine tiefere Einsichtsfähigkeit. Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, er sei ein guter Mensch gewesen (nicht so, wie Isabel und Victoria gut waren), aber Boris hatte seine eigenen Regeln und hielt sich daran. Im Gegensatz zu allen anderen, die ich hier kennengelernt habe, gelang es ihm, über den Dingen zu schweben. Hunger, Mord, schlimmste Grausamkeiten – er wandelte daran vorbei oder gar mitten hindurch und wirkte doch immer unversehrt. Es war, als hätte er sich jede Möglichkeit im Voraus vorgestellt, und daher konnten ihn die Ereignisse nie überraschen. Dieser Haltung lag ein so tiefer, so zerstörerischer, so mit den Tatsachen in Einklang stehender Pessimismus zugrunde, dass er am Ende ein fröhlicher Mensch war.
Ein-, zweimal pro Woche bat Victoria mich, Boris Stepanovich auf seinen Runden durch die Stadt zu begleiten – seinen «Ankauf-Verkauf-Expeditionen», wie er das nannte. Nicht dass ich ihm sonderlich helfen konnte, aber ich war immer froh über diese Möglichkeit, von meiner Arbeit wegzukommen, und sei es nur für ein paar Stunden. Victoria erkannte dies wohl, und sie achtete darauf, mich nicht allzusehr anzutreiben. Meine Stimmung blieb gedrückt, meine Verfassung meist labil – ohne ersichtlichen Grund verlor ich schnell die Nerven, war brummig und wortkarg. Boris Stepanovich war gewiss die richtige Medizin für mich, und da unsere kleinen Exkursionen die Monotonie meiner Gedanken unterbrachen, begann ich mich allmählich darauf zu freuen.
An Boris’ Einkaufstouren (wenn er die Lebensmittel für Woburn House auftrieb und die von uns bestellten Sachen ausfindig machte) nahm ich nie teil, aber oft sah ich ihm zu, wie er es anstellte, die Gegenstände zu verkaufen, die Victoria zur Veräußerung bestimmt hatte. Er machte bei diesen Geschäften einen Profit von zehn Prozent, aber wenn man ihn dabei beobachtete, musste man glauben, er arbeite völlig auf eigene Rechnung. Boris hatte es sich zur Regel gemacht, keinen
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