Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Summe zahlreicher Eventualitäten, und wie verschieden diese auch im Detail sein mögen, gemeinsam ist ihnen allen die grundsätzliche Planlosigkeit ihres Musters: dies, dann das, und daher dies. Eines Tages wachte ich auf und merkte. Ich war am Bein verletzt und konnte nicht schnell genug weglaufen. Meine Frau hat gesagt. Meine Mutter ist gestürzt. Mein Mann hat vergessen. Ich hörte Hunderte von diesen Geschichten, und es gab Zeiten, da glaubte ich es nicht mehr aushalten zu können. Ich musste Mitgefühl zeigen, immer an den richtigen Stellen nicken, aber das gelassene, professionelle Gebaren, das ich beizubehalten versuchte, war nur eine armselige Abwehrmaßnahme gegen das, was ich da zu hören bekam. Ich war nicht dafür geschaffen, mir die Geschichten von Mädchen anzuhören, die als Prostituierte in den Euthanasiekliniken gearbeitet hatten. Ich besaß kein Talent, Müttern zuzuhören, die mir vom Tod ihrer Kinder erzählten. Es war zu schaurig, zu grausam, und ich konnte mich nur hinter der Maske der Arbeit verstecken. Ich setzte den Namen des Jeweiligen auf die Liste und gab ihm einen Termin – zwei, drei oder gar vier Monate später. Dann dürften wir ein Fleckchen für Sie haben, pflegte ich zu sagen. Wenn es dann so weit war, dass sie in Woburn House einziehen konnten, hatte ich sie einzuweisen. Das war meine Hauptbeschäftigung an den Nachmittagen: die Neuankömmlinge herumzuführen, ihnen die Regeln zu erklären und ihnen zu helfen, sich einzurichten. Den meisten gelang es, die Termine einzuhalten, die ich so viele Wochen zuvor für sie festgesetzt hatte, aber manche tauchten auch nicht auf. Der Grund war nie sehr schwer zu erraten. In der Regel wurde das Bett des Betreffenden einen vollen Tag freigehalten. Kam er dann immer noch nicht, strich ich seinen Namen von der Liste.
Der Lieferant von Woburn House war ein Mann namens Boris Stepanovich. Er brachte uns das erforderliche Essen, die Seife, die Handtücher und sonstiges Material. Vier- bis fünfmal pro Woche tauchte er auf, brachte die erbetenen Sachen ins Haus und entführte dann eine weitere Kostbarkeit aus dem Woburnschen Vermögen: eine porzellanene Teekanne, eine Garnitur Sofaschoner, eine Geige, einen Bilderrahmen – all das, was in den Zimmern im vierten Stock gelagert war und noch immer das zum Weiterbetrieb von Woburn House nötige Bargeld lieferte. Boris Stepanovich war schon lange dabei, erzählte mir Victoria, schon seit der Zeit von Dr. Woburns ursprünglichen Notunterkünften. Anscheinend hatten sich die beiden Männer schon von viel früher her gekannt, und angesichts dessen, was ich über den Arzt erfahren hatte, überraschte es mich, dass er mit einem derart dubiosen Individuum wie Boris Stepanovich befreundet gewesen sein sollte. Ich glaube, es hatte irgendetwas damit zu tun, dass der Arzt Boris einmal das Leben gerettet hatte, aber es kann auch umgekehrt gewesen sein. Ich habe mehrere verschiedene Versionen von dieser Geschichte gehört und nie Sicherheit darüber erlangt, welche davon die richtige war.
Boris Stepanovich, ein rundlicher, mittelalter Mann, wirkte nach den Maßstäben der Stadt geradezu fett. Er hatte eine Vorliebe für extravagante Kleidung (Pelzmützen, Spazierstöcke, Ansteckblumen), und irgendetwas in seinem runden, ledrigen Gesicht erinnerte mich an einen Indianerhäuptling oder einen orientalischen Potentaten. Alles, was er tat, hatte ein gewisses Flair, sogar seine Art, Zigaretten zu rauchen – wie er sie fest zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, mit eleganter, verdrehter Nonchalance den Rauch inhalierte und ihn dann wie Dampf aus einem Kochkessel aus seinen riesigen Nasenlöchern strömen ließ. Im Gespräch war ihm jedoch nicht immer leicht zu folgen, und als ich ihn besser kennenlernte, gewöhnte ich mir an, stets mit einigem Wirrwarr zu rechnen, wenn er den Mund aufmachte. Er hatte eine Schwäche für obskure Aussprüche und elliptische Anspielungen, und simple Bemerkungen pflegte er so blumig auszuschmücken, dass man schon bald nicht mehr klug aus ihm wurde. Es war Boris ein Gräuel, sich festlegen zu lassen, und er benutzte die Sprache als Fortbewegungsmittel – ständig auf dem Sprung, preschte er vor oder wich aus, kreiste, tauchte weg und plötzlich an einer anderen Stelle wieder auf. Bei manchen Gelegenheiten erzählte er mir so viele Geschichten von sich, gab so viele widersprüchliche Darstellungen seines Lebens zum Besten, dass ich es aufgab, irgendetwas davon zu glauben. Einmal
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