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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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etwas erst einmal weg, lässt es sich nicht mehr wiedererlangen.»
    «Ist das so schlimm? Alles geht einmal zu Ende, Boris. Ich wüsste nicht, warum es Woburn House anders ergehen sollte.»
    «Es ist schön, dass Sie das sagen. Aber was ist mit der armen Victoria?»
    «Victoria ist nicht dumm. Ich bin sicher, sie hat schon selbst darüber nachgedacht.»
    «Victoria ist aber auch verstockt. Sie wird weitermachen, bis der letzte Glot ausgegeben ist, und dann wird sie nicht besser dran sein als die Leute, denen sie zu helfen versucht hat.»
    «Ist das nicht Ihre Aufgabe?»
    «Ja und nein. Ich habe ihrem Vater versprochen, mich um sie zu kümmern, und ich gedenke nicht, mein Wort zu brechen. Sie hätten sie einmal sehen sollen, als sie jung war – vor Jahren, vor dem Zusammenbruch. So schön, so voller Leben. Mich quält die Vorstellung, dass ihr irgendetwas Böses zustoßen könnte.»
    «Sie überraschen mich, Boris. Sie sind ja ein richtiger Gefühlsmensch.»
    «Wir alle haben unsere Privatsprache der Geister, fürchte ich. Ich habe das Menetekel an der Wand gelesen, und es ermutigt mich mitnichten. Die Mittel von Woburn House werden zerrinnen. Natürlich habe ich in meiner Wohnung noch zusätzliche Reserven –» hier machte Boris eine ausholende Geste, die alle Gegenstände im Zimmer umfasste – «aber auch die werden schnell erschöpft sein. Wenn wir nicht anfangen vorauszuschauen, wird uns allen nicht viel Zukunft bleiben.»
    «Was wollen Sie damit sagen?»
    «Pläne machen. Die Möglichkeiten überdenken. Handeln.»
    «Und Sie erwarten, dass Victoria sich Ihnen anschließt?»
    «Nicht unbedingt. Aber wenn ich Sie auf meiner Seite habe, besteht zumindest die Chance.»
    «Wie kommen Sie darauf, dass ich irgendeinen Einfluss auf sie haben könnte?»
    «Das sehe ich doch. Ich sehe, was da drüben vor sich geht, Anna. So wie auf Sie ist Victoria noch auf keinen Menschen eingegangen. Sie ist richtiggehend vernarrt in Sie.»
    «Wir sind doch bloß Freunde.»
    «Es ist mehr als das, meine Liebe. Sehr viel mehr.»
    «Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»
    «Das kommt noch. Früher oder später werden Sie jedes meiner Worte verstehen. Das garantiere ich Ihnen.»

Boris hatte recht. Zu guter Letzt wurde es mir klar. Schließlich trat alles ein, was bevorgestanden hatte. Freilich brauchte ich lange, bis mir das aufging. Tatsächlich nahm ich es erst richtig wahr, als es mir ins Auge fiel – aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich der ahnungsloseste Mensch aller Zeiten bin, ist dies vielleicht verzeihlich.
    Habe Geduld mit mir. Ich weiß, dass ich hier zu stammeln beginne, doch mir fehlen die richtigen Worte für das, was ich sagen will. Du musst versuchen, dir vorzustellen, wie das damals für uns war – dieses Gefühl von Untergang, das auf uns lastete, dieses Unwirkliche, in das jeder Augenblick getaucht schien. Tribadie ist bloß ein medizinischer Ausdruck, der den Tatsachen keineswegs gerecht wird. Victoria und ich wurden kein Paar im üblichen Sinn dieses Wortes. Wir wurden eher eine Zuflucht füreinander, eine Stelle, an der jede von uns Trost in ihrer Einsamkeit suchen konnte. Der Sex war auf die Dauer das Unwichtigste dabei. Ein Körper ist schließlich nur ein Körper, und es scheint kaum von Belang, ob die Hand, die dich berührt, einem Mann oder einer Frau gehört. Das Zusammensein mit Victoria machte mir Spaß, gab mir aber auch den Mut, wieder in der Gegenwart zu leben. Und das zählte am meisten. Ich blickte nicht mehr ständig zurück, und dies schien nach und nach einige der zahllosen Wunden zu heilen, die ich in mir herumtrug. Ich wurde nicht ganz wiederhergestellt, aber zumindest verabscheute ich mein Leben nicht mehr. Eine Frau hatte sich in mich verliebt, und dann entdeckte ich, dass auch ich sie lieben konnte. Ich verlange kein Verständnis von dir dafür, sondern nur, dass du dies als Tatsache anerkennst. Es gibt in meinem Leben vieles, was ich bedaure, aber das gehört nicht dazu.
    Es begann gegen Ende des Sommers, drei oder vier Monate nachdem ich nach Woburn House gekommen war. Victoria kam zu einem unserer spätabendlichen Gespräche in mein Zimmer, und ich erinnere mich, dass ich hundemüde war, Kreuzschmerzen hatte und mich noch niedergeschlagener fühlte als üblich. Sie begann mir freundschaftlich den Rücken zu massieren, versuchte meine Muskeln zu entspannen, war einfach hilfsbereit und schwesterlich, wie jede andere unter solchen Umständen es auch gewesen wäre. Freilich hatte mich

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