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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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einem Mitglied des französischen Hofs gehört hatte (dem Duc de Fântomas, glaube ich), und das ich nur benutzte, wenn sie mich besuchen kam, das ich jenen Gelegenheiten vorbehielt, wenn die Leidenschaft sie durch die verschneiten Straßen von Minsk in meine Arme trieb. Ach, grausamer Zahn der Zeit! Das Service hat mit den Jahren gelitten: Untertassen sind gesprungen, Tassen sind zerbrochen, eine Welt ist verlorengegangen. Und doch, trotz alledem hat ein einziges Stück überlebt, eine letzte Verbindung zur Vergangenheit. Gehen Sie sanft damit um, mein Freund. Sie halten meine Erinnerungen in Ihrer Hand.»
    Ich glaube, sein Trick bestand in der Fähigkeit, tote Dinge zum Leben zu erwecken. Boris Stepanovich lenkte die Auferstehungsagenten von den eigentlichen Gegenständen ab und schwatzte sie in ein Reich, in dem das Verkaufsobjekt keine Teetasse mehr war, sondern die Gräfin Oblomow selbst. Es spielte keine Rolle, ob die Geschichten wahr oder erfunden waren. Hatte Boris’ Stimme einmal zu arbeiten begonnen, geriet das ursprüngliche Thema vollständig in den Hintergrund. Diese Stimme war sicherlich seine wirksamste Waffe. Er verfügte über eine großartige Bandbreite von Modulationen und Klangfarben, wechselte bei seinen Reden ständig zwischen harten und weichen Tönen hin und her, hob und senkte die Stimme, während die Worte als dichtes, kunstvoll angelegtes Sperrfeuer von Silben dahinströmten. Boris hatte eine Schwäche für abgedroschene Phrasen und literarische Sentenzen, doch waren seine Geschichten bei aller Flachheit der Sprache bemerkenswert plastisch. Das Verkaufen war die Hauptsache, und Boris schreckte auch nicht vor den gemeinsten Tricks zurück. Notfalls brach er in Tränen aus. Wenn die Situation es erforderte, schmiss er einen Gegenstand auf den Boden. Einmal jonglierte er, um seine Überzeugtheit von einem Satz zerbrechlich wirkender Gläser unter Beweis zu stellen, geschlagene fünf Minuten damit herum. Mir waren diese Vorführungen immer etwas peinlich, doch ihre Wirkung verfehlten sie fraglos nie. Schließlich wird der Preis von Angebot und Nachfrage bestimmt, und die Nachfrage nach kostbaren Antiquitäten war kaum sonderlich groß. Nur die Reichen konnten sich so etwas leisten – die Profitgeier vom schwarzen Markt, die Müllmakler, die Auferstehungsagenten selbst –, und es wäre unklug von Boris gewesen, auf die Nützlichkeit dieser Dinge abzustellen. Der springende Punkt war, dass es sich um Luxusartikel handelte, um Dinge, die man besaß, weil sie als Symbole für Macht und Reichtum galten. Daher diese Geschichten von der Gräfin Oblomow und französischen Herzögen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wer Boris Stepanovich eine antike Vase abkaufte, erhielt nicht bloß eine Vase, sondern eine ganze Welt noch obendrein.
    Boris’ Wohnung lag in einem kleinen Gebäude an der Turquoise Avenue, etwa zehn Minuten von Woburn House entfernt. Wenn wir unsere Geschäfte mit den Auferstehungsagenten abgeschlossen hatten, gingen wir häufig auf ein Glas Tee dorthin zurück. Boris war ein großer Teeliebhaber, und gewöhnlich servierte er ihn mit einem Stück Gebäck dazu – sündhafte Wonnen aus dem Haus des Kuchens am Windsor Boulevard: Windbeutel, Zimtwecken, Schokoladeneclairs, die dort zu horrenden Preisen angeboten wurden. Boris konnte diesen kleineren Extravaganzen jedoch nicht widerstehen, und er genoss sie bedächtig, begleitete sein Kauen mit einem melodischen Schnurren, einer steten klanglichen Untermalung, die irgendwo zwischen einem Lachen und einem gedehnten Seufzer angesiedelt war. Auch mir machten diese Teestunden Freude, aber nicht so sehr wegen des Essens, sondern weil Boris darauf bestand, dass ich daran teilnahm. Meine junge verwitwete Freundin ist zu blass, pflegte er zu sagen. Wir müssen ihr mehr Fleisch auf die Knochen packen, die Wangen und die Augen von Miss Anna Blume aufblühen lassen. Wie hätte ich eine solche Behandlung nicht genießen sollen; zuweilen hatte ich das Gefühl, Boris’ ganze Überschwänglichkeit sei bloß eine Komödie, die er zu meinem Besten aufführte. Er spielte den Clown, den Schurken, den Philosophen, alles nacheinander, aber je besser ich ihn kennenlernte, desto mehr betrachtete ich diese Rollen als Aspekte ein und derselben Persönlichkeit – die ihre mannigfaltigen Waffen aufbot, um mich wieder dem Leben zurückzugeben. Wir wurden innige Freunde, und ich stehe in Boris’ Schuld für sein Mitgefühl, für seine listigen und beharrlichen

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