Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
Vom Netzwerk:
Die Tasche über der Schulter, in der sie den Kris und ihr Geld
aufbewahrte, stieg sie die Hühnertreppe in die niedrige, dunkle Gaststube
hinab, ließ sich eine Tasse Kaffee und ein Brötchen geben und machte sich auf
den Weg.
    Das Moor lag schimmernd unter den Schleiern der Dämmerung, aus denen
die Sonne sich erst mühsam emporkämpfte. Neele bog von der Hauptstraße ab und
schlug den nächstbesten Pfad ein. Es war ihr gleichgültig, wohin sie ging. Sie
wollte nur mit sich und ihren Gedanken und mit dem Moor allein sein. Ihre
innere Erregung ließ nach, als sie eintauchte in diese Welt der silbern blitzenden
Erlen, der Sumpfwiesen und ölig schillernden Tümpel, über denen eine dichte,
trügerische Decke aus Wasserlinsen lag. Im Schilf wisperte es wie verhaltene
Stimmen. Sie atmete tief den strengen, säuerlichen Geruch ein, während sie über
von der Sonne gebleichte entwurzelte Baumruinen stieg und an halb verfallenen
Torfstecherkaten vorüberging.
    Allmählich wurde ihr Weg trockener und stieg an. Die Moorgewächse
machten Kiefern und Blaubeerengesträuch Platz. Ganz in Gedanken verloren, hatte
sie nicht bemerkt, dass sie sich dem verrufenen runden Hügel genähert hatte und
drauf und dran war, zu seiner Kuppe emporzusteigen. Erst zögerte sie, aber dann
schien es ihr plötzlich sehr wichtig, dass sie dort hinaufstieg und nach langer
Zeit wieder den Heidenaltar vor sich sah, der sie als Kind so geängstigt hatte.
Während sie den rauen Pfad erklomm, pflückte sie links und rechts von den
Blumen und Gräsern, die dort wuchsen, bis sie einen dichten Strauß beisammen
hatte.
    Dann, viel schneller, als sie erwartet hatte, als hätte etwas sie
auf Flügeln hinaufgetragen, stand sie vor dem gewaltigen Stein, der die grobe
Form eines Tisches hatte und an mehreren Stellen so tief ausgehöhlt war, dass
sich das Regenwasser darin sammelte. Die alten Leute nannten diese steinernen
Näpfe »Blutschüsseln«, obwohl der Schulmeister behauptete, sie seien nur von
Wind und Regen ausgewaschen. Ganz sicher von menschlicher Hand gefertigt war
der eiserne Keil, der in eine Spalte des Felsens getrieben war. Von ihm
behaupteten die Alten, es sei das riesige Beil, mit dem der heidnische Priester
die Opfer zerstückelt hatte, sodass ihr Blut in die Blutschüsseln rann. Der
letzte Heidenpriester habe es dann auf der Flucht vor dem Christentum so tief
in den Stein gehauen, dass es niemand mehr herausziehen konnte. Der Schulmeister
widersprach auch dieser Ansicht, obwohl er nicht genau sagen konnte, welchen
Zweck der Keil dann wohl gehabt haben mochte.
    Neele setzte sich auf den Stein, den die aufgehende Sonne angenehm
erwärmt hatte. Ohne recht zu wissen, was sie tat, streute sie die gesammelten Blumen
und grünen Zweige über den Heidenaltar und legte zuletzt den Kris darauf, wobei
sie ihn so ausrichtete, dass die scharfe Spitze auf den tief unter ihr
liegenden Moorhof wies. Wie in Trance flüsterte sie, den Blick gebannt auf die
gleißende Waffe gerichtet: »Du hast mir zwei Mal das Leben gerettet, rette es
mir ein drittes Mal! Bei deinem Herrn, der dich schmieden ließ und dich
getragen hat, dessen Seele mit der deinen verbunden ist: Hilf mir, dass sein
Andenken rein erhalten bleibt! Befreie mich von Frieder Selmaker.« Sie beugte sich vor und küsste die Waffe mit zitternden
Lippen. Dann stand sie auf, steckte den Kris wieder ein, wischte die Blumen von
der steinernen Platte und machte sich auf den Rückweg. Eine tiefe Ruhe erfüllte
ihr Innerstes.

Mord in Bremerhaven
    1
    N eele hätte Geld
genug gehabt, um nach Bremerhaven zu reisen und sich dort in einem Hotel einzumieten,
aber sie blieb im Dorfkrug. Sie musste nicht länger vor Frieder flüchten. Sie
vertraute fest darauf, dass der Dolch ihres Gatten sie von ihm befreien würde.
Sie geriet jedoch, wie zu erwarten gewesen war, zunehmend unter Druck. Der
Pfarrer, der Schulmeister und der Dorfschulze zitierten sie zu einem Gespräch
und redeten ihr ins Gewissen, sie möge doch keinen Skandal entfachen, sondern zu
ihrem angetrauten Gatten zurückkehren. Wo käme man denn hin, wenn eine Frau
sich wegen jeder Kleinigkeit von ihrem Mann trennen wollte?
    Â»Es war allerdings keine Kleinigkeit, dass er mich allein und
schwanger in ein fremdes Land schickte und ohne ein Wort zurückblieb«,
protestierte sie, verbittert über das Unverständnis der

Weitere Kostenlose Bücher