Im Land der Mond-Orchidee
diesen Geruch gewöhnten, aber Neele liebte ihn. Der ständige
Gewürzduft, der in Java in der Luft schwebte, war ihr nicht so köstlich erschienen.
Hier war ihre Heimat. Was immer sie an Leid im Herzen trug, hier war sie
aufgewachsen, und der gröÃte Teil ihrer Erinnerungen bezog sich auf dieses
Stückchen Land.
Als sie auf dem Bahnhof ausstieg, fragte sie nach einem Ponywagen
und bekam einen zur Miete. Sie lud ihre Koffer auf, stieg auf den Kutschbock
und schnalzte mit den Zügeln. Das Pony zog an, und das Gespann holperte über
den tief gefurchten Weg, über den Eschen und Erlengebüsche ihren Schatten
warfen. Ihre Blätter funkelten silbern im schwachen Wind. Nach einer halben Stunde
Fahrt erreichte Neele das Dorf Norderbrake und fuhr, ohne sich aufzuhalten, zum
Moorhof weiter. Sie kümmerte sich nicht um die neugierigen Blicke, die der vornehm
gekleideten Dame auf dem Kutschbock eines Ponywagens folgten.
Der Weg umrundete den dunklen Hügel mit dem Opferaltar und führte
weiter auf den Moorhof zu. Es musste in letzter Zeit einige sehr heftige
Unwetter gegeben haben, denn der immer schon baufällige Ostflügel war ganz in
sich zusammengesunken und lag als Trümmerhaufen auf der steilen Böschung der
Wurt. Als Neele näher kam, stellte sie mit Befremden fest, dass das Haus
verlassen wirkte. Die Fensterläden waren geschlossen, kein Rauch stieg aus dem
Schornstein in den Himmel auf, obwohl es Mittagszeit war.
Sie hielt das Gefährt vor dem altertümlichen steinernen Torbogen an
und schlang die Zügel um eine der Säulen. Vorsichtig trat sie in den Hof. Kein
Mensch war zu sehen, aber immerhin gackerten Tante Käthes Hühner in ihrem
Gehege â es wohnte also noch jemand hier. Neele ging zur Haustür, probierte die
Klinke und fand, dass die Tür offen stand. Mit einem Seufzer der Erleichterung
trat sie in die Diele und von dort ins Wohnzimmer. Es war halbdunkel darin
wegen der geschlossenen Läden. Auf dem Tisch standen die Reste einer einfachen
Mahlzeit. Niemals hätte Tante Käthe gestattet, dass im Wohnzimmer anstatt, wie
es sich gehörte, im Esszimmer gegessen wurde. Wo war sie also? Und Onkel
Merten?
Sie wollte gerade weitergehen in den Salon, als Schritte die Treppe
vom oberen Stockwerk herunterkamen. Schwere Männerschritte. Die Tür wurde
aufgeschoben, und im Türrahmen stand, das Gesicht unnatürlich gerötet, in
verwahrloster Kleidung, Frieder Selmaker.
2
F rieder und Neele
starrten einander an, einer so ver blüfft wie der andere. Neele, die nicht
damit gerechnet hatte, Frieder in diesem Leben wiederzusehen, war wie erstarrt;
sie stand da, als sähe sie ein Gespenst â und so empfand sie seine Erscheinung
auch: ein Gespenst der Vergangenheit, das kein Recht hatte, in ihrem jetzigen
Leben umherzuspuken.
»Du?«, fragte sie schlieÃlich. »Wie bist du
hierhergekommen?«
Es war typisch für Frieder, dass er nur die Achseln zuckte und ins
Wohnzimmer schlurfte, um sich dort in dem tiefen Sessel am Kamin
niederzulassen. »Könnte auch fragen, was du hier machst«, erwiderte er mit
schwerer Zunge. Jetzt erst erkannte sie die Ursache für sein gerötetes Gesicht
und seine schwerfälligen Schritte. Er hatte getrunken, und nicht zu knapp.
Früher hatte er das nie getan. Was war mit ihm geschehen in dem Dreivierteljahr,
seit sie ihn am Bahnhof von Bremerhaven das letzte Mal gesehen hatte?
»Wo sind Tante Käthe und Onkel Merten?«,
fragte sie.
»Bremerhaven«, antwortete er knapp. Er beugte sich vor und musterte
sie von oben bis unten, die Augen zusammengekniffen, um sie im Halblicht besser
sehen zu können. »Bist schön angezogen«, bemerkte er. »Bist in Java eine feine
Dame geworden? Das Kleid ziehst du besser gleich wieder aus, wenn du
hierbleiben willst, in dem Seidenfetzen kannst du nicht arbeiten.«
»Ich werde nicht hierbleiben, und ich werde nicht für dich arbeiten.« Ihre Stimme klang kalt und entschlossen. »Du hast mich
verlassen, als ich dich am nötigsten gebraucht hätte, und jetzt meinst du, ich
könnte wieder dort anfangen, wo wir vorigen September aufgehört haben? Fällt
mir nicht ein.« Sie wandte sich zum Gehen.
»He! Was soll das heiÃen?« Erstaunlich
gelenkig für jemand, der so betrunken war, sprang er auf und wollte sie am Arm
packen, aber sie entwand sich ihm, lief hinaus und sprang auf den Ponywagen.
Als er im Hof
Weitere Kostenlose Bücher