Im Land der Mond-Orchidee
erschien, hatte sie das Gefährt bereits gewendet und war auf dem
Weg zum Dorf.
Jetzt erst wurde ihr klar, welche
Konsequenzen Frieders Rückkehr für ihr Leben hatte. Sie war vom deutschen Konsul
rechtsgültig von ihm geschieden und mit einem anderen Mann verheiratet worden,
aber sowohl die Scheidungsurkunde wie auch den Ehekontrakt hatte sie verloren,
als das Jagdhaus niederbrannte. Für jeden hier in Norderbrake war sie immer
noch Frieder Selmakers Frau. Man mochte sie bedauern, dass er sie so schmählich
im Stich gelassen hatte, aber die Leute hier waren konservativ. Ehe blieb Ehe,
ob die Frau verlassen, verprügelt oder betrogen wurde.
Sie lenkte den Wagen in Richtung Dorf. Diese Nacht zumindest musste
sie hierbleiben, es war zu spät, um nach Bremerhaven zurückzukehren und sich
dort ein Quartier zu suchen. Im Dorfkrug gab es zwei Fremdenzimmer, die für
durchreisende Amtspersonen bereitstanden, denn sonst verirrte sich kaum jemand
in das abgelegene Dorf. Sie würde eines davon mieten, aber zuerst wollte sie
mit dem Pfarrer sprechen.
Ihre Ankunft war, wie sie feststellte, bereits Dorfgespräch
geworden, denn als sie das Ponygespann vor dem Pfarrhaus neben der Kirche
anhielt, lungerten auffällig viele Leute auf der StraÃe herum, und aus den
Fenstern des Wirtshauses guckten noch mehr. Unter den Blicken vieler
neugieriger Augen lieà sie den Klopfer an die Tür fallen, die so prompt
geöffnet wurde, als hätte man sie erwartet. Der Geistliche selbst empfing sie,
das Gesicht gerötet vor Aufregung.
»Neele Selmaker? Bist du es wirklich? Komm herein! Jan wird sich um
das Pferd kümmern.«
»Kann er meine Koffer in den Dorfkrug bringen? Ich miete mir dort
ein Zimmer.«
Der Pfarrer sah sie überrascht an. »Ja, wohnst du denn nicht im
Moorhof bei deinem Mann?«
»Nein. Darf ich eintreten?«
»Aber natürlich.« Betroffen trat er einen Schritt zurück. »Komm
herein ⦠Grete!«, rief er nach seiner Frau. »Neele
Selmaker ist zurück! Machst du uns schnell eine Kanne Tee, und ist noch Kuchen
da?«
Neele wurde in den Salon des Pfarrhauses geführt, einen
bescheidenen, aber mit gutem Geschmack eingerichteten Raum, durch dessen offene
Fenster der Duft des blumenreichen Gartens hereinströmte. Sie lieà sich auf der
gestreiften Sitzgarnitur nieder. Jetzt erst merkte sie, wie erschöpft sie von
den Anstrengungen und Aufregungen des Tages war. Beinahe wollten ihr die Augen
zufallen. Aber da kam die Pfarrersfrau mit dem Tee und einem Teller voller
Plätzchen, und Neele fühlte sich bald so weit erfrischt, dass sie ihre
Geschichte erzählen konnte.
Es war nicht die ganze Geschichte ihrer Erlebnisse in Java, die sie
den Pfarrersleuten wiedergab. Sie erzählte ihnen, wie sie das Waisenhaus
verlassen vorgefunden und wie sie dann für die Klosterfrauen gearbeitet hatte,
bis sie Typhus bekam und in die Heimat zurückkehrte, weil sie das Tropenklima
nicht mehr vertrug. Sie erzählte ihnen auch, dass Paula Anderlies reich
geheiratet hatte und der Doktor zu den Goldgräbern nach Australien gegangen
war, aber sie sagte kein Wort über Jürgen Simms. Sie behauptete kurzerhand,
nichts davon zu wissen, dass er ihr nach Java nachgereist war, und ihn dort nie
gesehen zu haben. Sie sagte auch kein Wort über ihre Scheidung und ihre neue
Ehe und den Mord an ihrem Gatten und schon gar nicht über ihre Verurteilung und
die knappe Flucht von der Insel. Niemand in ihrer Heimat sollte jemals davon
erfahren.
Dann stellte sie ihrerseits Fragen: Was war mit Onkel Merten und
Tante Käthe, und warum war Frieder zurückgekehrt?
Sie erfuhr, dass Frieder im April wieder in Norderbrake aufgetaucht
war. Was er zwischen September und April getan hatte, war von dem wortkargen
Mann nicht zu erfahren gewesen. Er hatte sich im Moorhof niedergelassen, obwohl
das den beiden alten Leuten überhaupt nicht recht war, denn er hatte sich in
diesen Monaten verändert. Früher war er fleiÃig und hilfsbereit gewesen, jetzt
begann er schon am Morgen zu trinken und fuhr den ganzen Tag damit fort, bis er
halb bewusstlos irgendwo einschlief. Als Merten einen Schlaganfall erlitten
hatte, war Käthe klar gewesen, dass sie nicht auf die Hilfe des Schwiegersohns
zählen konnte, und sie hatte den Kranken in ein Invalidenheim in Bremerhaven
gebracht. Sie selbst hatte dort eine kleine Wohnung gemietet, um in seiner Nähe
sein zu
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