Im Land der Mond-Orchidee
erkennen.
»Ich glaube, es ist doch eine Wolke«, entschied Paula.
Neele gab ihr recht und dachte dabei, was für unbedeutende Gespräche
an Bord von Interesse waren. Ist das eine Insel? Ist das eine Wolke? Ich meine,
es ist eine Insel. Vielleicht ist es aber doch eine Wolke. Ja, du hast recht,
es ist eine Wolke.
In diesem Fall allerdings war der Umstand, dass es eine Wolke war,
von ganz entscheidender Bedeutung, wie sie gleich darauf erfahren sollten.
Paula trocknete sich die Stirn mit dem Halstuch. »Ich fühle mich
entsetzlich; was ist heute bloà los mit mir?«
Sie bekamen die Antwort sehr rasch, denn da kam Dr. Bessemer in
Begleitung ihres Bruders über das Deck. Er rief ihnen schon von Weitem
entgegen: »Heute wirdâs nichts mit Spaziergehen, meine Damen. Wir bekommen
einen Sturm, und das heiÃt: Alle Passagiere unter Deck, bis der Käptn uns
wieder rauslässt.«
»Einen Sturm!«, rief Paula. »Deshalb ist
der Himmel so verschleiert und die Sonne so stechend!«
Bessemer nickte. »Ja, das sind die ersten Anzeichen. In einer Stunde
wird es hier recht unfreundlich aussehen. Ich habe schon mit dem Kapitän
gesprochen, er ist ziemlich übellaunig, und das heiÃt, dass er sich Sorgen
macht. Die Meisje Mariaan ist zwar ein sehr solides
Schiff, aber die Gewalt, die ein Zyklon entwickelt, die kann man sich nicht
vorstellen.« Als Neele ihn fragend anblickte, erläuterte
er: »Zyklon nennt man die Wirbelstürme im Indischen Ozean. So ein Zyklon ist
eine riesige Wasserhose, die kleine Schiffe hochheben und davonschleudern kann.
Bei einem dicken Brocken wie der Meisje Mariaan ist
das natürlich nicht zu befürchten, aber ordentlich durchgerüttelt werden wir
wohl werden. Ihr Landratten habt noch keinen Zyklon
erlebt; ich sage euch, da ist der Himmel unten und das Meer oben und dazwischen
der Teufel! Man sieht nichts mehr, man hört nichts mehr, rundum sind nur noch
Wasser und das Gekreisch und Getöse des Windes! Der Kapitän wird in Kürze
anordnen, dass alle Passagiere in ihren Quartieren bleiben, also, runter mit
euch!«
Während er noch sprach, sah Neele, wie die Matrosen sich an den
Segeln zu schaffen machten und eins nach dem anderen refften. Gegenstände, die
ein Sturm hätte über Bord spülen können, wurden unter Deck geschleppt oder mit
Tauen festgezurrt.
Dr. Bessemer empfahl ihnen: »Am besten legt ihr euch ins Bett und
bleibt drin liegen, das erspart euch, von einer Wand an die andere geworfen zu
werden, denn so, wie es da drüben aussieht, wird es einer von der heftigen
Sorte werden. Ich werde dasselbe tun.«
Sie gehorchten niedergeschlagen. Sie kannten die heftigen Stürme an
Land, die von der Nordsee hereinwehten und Springfluten über das flache Land
trieben, aber weder Paula noch Neele hatten je einen Sturm auf See erlebt, und
was sie gehört hatten, klang beängstigend. Wenig später gingen Matrosen durch
und schlossen jede Luke unterhalb des obersten Decks wasserdicht zu. Es würde
ihnen also in den nächsten Stunden â wie lange, wusste keiner von ihnen â als
Beleuchtung nur das zusehends trüber werdende Tageslicht bleiben, das durch die
weit auseinanderliegenden Bullaugen hereinsickerte, und das reichte jetzt schon
kaum bis in die Kabine. Neele machte sich gottergeben darauf gefasst, ihr
Mittagessen im Finstern zu verzehren â es würde nämlich auch kein warmes Mittagessen
geben, da die Feuer der Kombüse gelöscht worden waren. Zwei Matrosen gingen mit
Körben durch und verteilten Brot, Butter, Speck und getrocknete Pflaumen. Zum
Trinken gab es nur das Wasser aus dem Metallfass im Aufenthaltsraum.
Paula und Neele saÃen im Dämmerlicht auf der Kante ihrer Kojenbetten
und aÃen. Den Matrosen folgte der Quartiermeister, der den Passagieren noch
einmal streng das Verbot einschärfte, das Zwischendeck zu verlassen, nicht nur,
weil sie die Mannschaft bei ihrer gefährlichen Arbeit an Deck behindert hätten,
sondern auch, weil die Gefahr bestand, von einer heftigen See über Bord gespült
zu werden. Als er einen Augenblick lang die Luke öffnete, die an Deck führte,
und sie dann gleich darauf wieder hinter sich schloss, sah Neele, wie
unheimlich sich der Tag verändert hatte. Ein gelbes Zwielicht herrschte drauÃen,
und Wolken waren aufgezogen, schwarze Gebilde, die Strähnen von Seetang
ähnelten. Ein Windstoà drang durch die
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