Im Land der Mond-Orchidee
beispielsweise. Und mein
Vater sie leidenschaftlich liebte.«
Ihr Vater war Seemann gewesen, und von einer langen, langen Reise
auf Walfängern in der Arktis war er eines Tages zurückgekehrt mit einer blonden
jungen Frau und einem kleinen Mädchen, die er als seine Familie vorstellte. Die
Ehe ihrer Mutter war sehr glücklich gewesen, obwohl die Leute sich nicht genug
das Maul wetzen konnten über die »Auswärtige« und das Kind, das sie mitgebracht
hatte. Trotz Heiners und ihrer Beteuerungen wurde das Kind allgemein als Frucht
eines früheren Verhältnisses angesehen. Man suchte aufmerksam nach fremden
Zügen in Neeles Gesicht, was aber ein nutzloses Unterfangen war, denn ihr Vater â ob es nun Heiner war oder ein anderer â hatte so gut wie keine Spur in ihrem
Aussehen hinterlassen. Sie war das Spiegelbild ihrer Mutter, von den
weizenblonden Haaren über die klaren Züge, die graublauen Augen und den langen
Körper durch und durch ein schönes deutsches Mädchen.
»Ja, beides stimmt.« Er räusperte sich.
»Als man dir vom Tod deiner Mutter erzählte, da sagte man dir, sie sei in einem
Spital in Bremen gestorben, nicht wahr?«
Neele nickte. Der ferne Schmerz fühlte sich an wie ein Nadelstich.
»Nun«, sagte der Pfarrer, »ich finde, jetzt, wo du uns verlässt und
ein völlig neuer Lebensabschnitt für dich beginnt, solltest du etwas wissen â¦
Sie ist nicht gestorben. Jedenfalls damals nicht. Ob sie heute noch lebt, weiÃ
ich nicht.«
Und dann stieà er hervor, mit gedämpfter Stimme und raschen Worten,
als hätte er Angst zu ersticken, ehe er alles herausgewürgt hatte: »Dir hat man
damals und auch später nichts von alledem erzählt. Alle Eingeweihten fanden, es
sei weniger schmerzlich für dich, wenn du dächtest, deine Mutter sei tot.« Er begann zu erzählen, wie man den Schuss gehört und die
blutüberströmte Frau auf dem Boden liegend gefunden hatte, den Revolver ihres
Mannes neben sich. Man hatte Dr. Steiner geholt und von ihm erfahren, dass die
Kugel irgendwo im Schädel stecken geblieben war, da man wohl einen Einschuss,
aber keine Austrittswunde sah. Auf seinen ärztlichen Rat hin hatte man Elsie
ins Bett gelegt, damit sie in aller Ruhe sterben könne. Der Pastor, dem sie
leidtat, hatte ihr das Altarsakrament gebracht, obwohl sie nach einem
Selbstmordversuch eigentlich kein Anrecht darauf hatte.
Aber Elsie war nicht gestorben. Zwei Tage lang lag sie, mit leeren
Puppenaugen vor sich hin starrend, reglos hinter den Bettvorhängen, bis Tante
Käthe es nicht länger aushielt vor Angst und Unruhe. Sie verlangte kategorisch,
die halb Tote, halb Lebendige aus dem Haus zu schaffen. Das war dann auch
geschehen. Man hatte die Unglückliche mit dem Pferdefuhrwerk in ein Krankenhaus
in Bremerhaven gebracht, zu dem der Pastor gute Beziehungen hatte. Von dort kam
dann die Nachricht, dass die Kugel unmöglich aus dem Schädel zu entfernen sei,
ohne das gesamte Gehirn zu zerstören. Elsie, die beharrlich weiterlebte, wurde
vom Spital in eine »Barmherzige Irren- und Idiotenanstalt« in der Nähe von
Flensburg verlegt, und das war das Letzte, was man in Norderbrake von ihr
hörte.
Neele fühlte, wie es ihr das Herz zusammenkrampfte. Was für ein schreckliches
Schicksal! Aber es war das Schicksal einer Frau, die in den letzten fünfzehn
Jahren keine Rolle mehr in ihrem Leben gespielt hatte, die zu einem Gespenst
geworden war, das im grünen Zimmer spukte.
»Ich meine nur«, sagte der Pfarrer, »du solltest es wissen.«
Sie nickte. »Ja, das sollte ich. Danke, Hochwürden.« Unsicher setzte
sie hinzu: »In der Zwischenzeit ist sie wohl gestorben, nicht wahr? Niemand
könnte so lange mit einer Kugel im Kopf überleben.«
»Nun, ich habe von Soldaten gehört â¦Â« Der Geistliche unterbrach
sich gerade noch rechtzeitig. Hastig und schuldbewusst fügte er hinzu: »Deine
Mutter ist gewiss schon längst tot. Gott sei ihrer Seele gnädig! Und nun komm,
wir gehen zurück.«
Als die Gäste gegangen waren, suchten Frieder und seine Frau ihr
Schlafzimmer auf. Frieder sank augenblicklich in tiefen Schlaf, sobald das
junge Ehepaar sich in sein Alkovenbett zurückgezogen hatte, aber Neele konnte
nicht einschlafen. Mit offenen Augen lag sie in der Dunkelheit hinter den
schweren Vorhängen und lieà Erinnerungen an sich
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