Im Land der Mond-Orchidee
vorüberziehen. Da waren Weihnachtsfeste
und Geburtstage. Da waren Bilder aus ihren Kindheit,
als sie die kleinen, holzigen Ãpfel im Garten hinter dem Haus geerntet hatten,
um grünes Gelee daraus zu machen. Da waren Erinnerungen daran, wie sie Scharlach
gehabt hatte und Dr. Steiner in seinem Einspänner vorgefahren war, um der
weinenden Tante Käthe zu versichern, dass sie nicht sterben würde. So viele
Erinnerungen, schöne und hässliche, fröhliche und traurige. Nichts davon würde
sich je wiederholen.
Sie stand vor einem entscheidenden Einschnitt in ihrem Leben, und es
war ein Einschnitt, den sie nicht geplant hatte, bei dem man sie nicht um ihre
Meinung gefragt hatte. Jäher Zorn wallte in ihr auf. Sie verstand ja, dass ein
Ehepaar eines Sinnes sein musste, wie ein Gespann in eine Richtung ziehen
musste, wenn der Wagen nicht umstürzen sollte, aber Frieder hatte sich rein gar
nicht darum gekümmert, was sie zu seiner Entscheidung zu sagen hatte. Er hatte
einfach nur zugehört, wie die Doktorsleute, die begeistert von ihrem Plan
waren, davon redeten und redeten und ihre Zukunft in dem fernen Land in immer
glühenderen Farben ausmalten, und dann hatte er eines Tages in seiner
schwerfälligen Art gesagt: »Hier ist ja doch nichts mehr zu machen. Wenn ihr
dorthin geht, gehe ich auch.«
Neele hatte mit ihm zu rechten versucht, aber er war nicht der Mann,
der sich auf Widerworte einlieÃ. Einen Nachmittag lang hatte er ihr zugehört,
dann hatte er ihr erklärt, dass er seine Entschlüsse nicht zu ändern pflege,
wenn er sie einmal gefasst hätte, und schon gar nicht pflege er sie mit seiner
Frau zu diskutieren. Das Gleiche hatte er zu Tante Käthes Vorwürfen gesagt, die
zwar sehr strenge Ansichten über den Gehorsam einer Ehefrau hatte, aber noch
strengere über die Ausreise in ein heidnisches Land. In ihren Augen gab es
überhaupt nur einen einzigen vernünftigen Grund, dorthin zu fahren: wenn einen
der Herr zum Missionar berufen hatte â und war das etwa bei ihm der Fall?
Nein, hatte Frieder erwidert, aber er konnte ja in Pastor Ormusâ
Institut arbeiten. Dort brauchte man nicht nur Hände, die beteten, sondern auch
solche, die kräftig zupackten.
Reglos, um Frieder nicht aus dem Schlaf zu wecken, lag sie zwischen
den aufgeplusterten Decken und würgte ihren Zorn hinunter. Wie konnte das sein,
dass man eine Frau so gar nicht nach ihren Wünschen fragte, selbst wenn es um
so wichtige Dinge wie um die Ãbersiedlung in ein fremdes Land ging? Der Mann
entschied, und die Frau musste hinter ihm hertrotten wie ein Kalb, das an einem
Strick zum Markt geführt wird â und Tante Käthe fand das auch noch recht und richtig! Nun, jedenfalls hatte sie niemals
Einspruch dagegen erhoben. Sie fand es richtig, weil Kirche und Staat einander
die Hand reichten und einander mit der Rede unterstützten, eine Ehe könne nur
gelingen, wenn eine Frau wie eine Kuh gehorchte. Und deshalb lag Neele jetzt im
Dunkeln im Bett und meinte, ihr würde jeden Augenblick das Herz brechen.
Dann wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Gespräch mit dem Pfarrer
und seiner merkwürdigen halben ÃuÃerung, er hätte von Soldaten gehört, die mit
einer Kugel im Kopf überlebt hatten. Wenn ihre Mutter nun tatsächlich noch
lebte? Und wie mochte es ihr ergehen, nachdem sie so schwer verwundet worden
war? Neele spürte, wie eine plötzliche tiefe Sehnsucht nach der unbekannten
Frau sie überkam. Hätte man ihr nicht früher sagen müssen, dass Elsie noch am
Leben war? Vielleicht war es ja barmherzig gewesen, ein kleines Kind anzulügen,
aber sobald sie einmal fünfzehn oder sechzehn geworden war, hätte man es ihr
sagen müssen. Von allen Seiten behandelte man sie wie ein ewiges Kind. Und
jetzt war es zu spät, noch herauszufinden, was aus Elsie geworden war. Sie
mochte Onkel Merten und Tante Käthe fragen, aber die würden sie vermutlich
anlügen.
Sie lag stumm im Bett, in ihrer hilflosen Wut gefangen wie in einem
tiefen, kalten Grab.
2
A ls der Samstagmorgen anbrach und Neele sich anzog, um mit
ihren Gefährten nach Bremerhaven zu fahren, war ihr so elend zumute, dass sie
am liebsten im Bett geblieben wäre. Sie musste sich zwingen, ihren Malzkaffee
zu trinken und ein paar von den gebutterten Haferkeksen zu essen, um wenigstens
etwas im Magen zu haben, und dann wurde ihr so übel, dass sie alles
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