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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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schimmelte im Schrank, weil es Tag und Nacht regnete.
    Merten lenkte sein Gespann durch die rostfarben, grün und golden
gescheckte Landschaft. Neele fühlte, wie ihr das Heimweh das Herz abdrückte,
noch bevor sie das Dorf erreicht hatten. Am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen
und zurückgelaufen, und wäre sie ihre eigene Herrin gewesen, so hätte sie
vielleicht auch genau das getan. Aber als Ehefrau unterstand sie nach geistlichem
und weltlichem Recht der Autorität ihres Gatten, und der wollte nach Java.
    Neele schloss halb die Augen und bemühte sich, die Tränen
zurückzuhalten, die ihr beim Anblick des vertrauten Moors unter den Lidern
hervorquollen. Sie wollte nicht, dass Frieder sie weinen sah, weil er sie
wieder nur angeschnauzt hätte. Er gehörte zu den Menschen, die jede
Gefühlsäußerung empfinden wie das Kratzen der Kreide auf einer Schultafel.
    Auf dem kurzen Weg durch das Dorf wurden sie immer wieder
angehalten, oder man winkte ihnen zu, aber die großen Abschiedsbesuche waren
schon in den vergangenen Tagen gemacht worden, sodass es jetzt eilig zuging. Es
waren auch nicht mehr so viele Leute da, die ein inniges Lebewohl zu sagen
gehabt hätten. Neele dachte daran, dass sie als Kind ein gutes Dutzend Freundinnen
gehabt hatte, aber sie waren eine nach der anderen alle weggezogen. Einige
hatten in andere Dörfer geheiratet, die auf weniger unsicherem Grund standen,
und drei waren überhaupt nach Bremerhaven gezogen und dort »Fräuleins«
geworden, wie Tante Käthe unverheiratete arbeitende Frauen nannte.
    Der Weg bis zum nächsten Bahnhof erschien ihr erstaunlich kurz.
Schon standen sie da und warteten auf den Zug, während Merten die nötigen Worte
für einen Abschied zusammensuchte. Viele fand er nicht, also drückte er Neele
an sich und küsste sie, klopfte Frieder und Lennert die Schultern und winkte
Paula zu. Der Zug kam, das Gepäck wurde eingeladen, der Pfiff des Bahnhofsvorstehers
ertönte, und Neele warf einen letzten Blick zurück.
    Es begann erst zu nieseln und dann bald heftiger zu regnen.
Nebelbänke zogen von der Elbemündung herein. Neele starrte durchs Zugfenster in
den vorüberfliegenden Ruß und dachte, dass die Zukunft genauso gestaltlos vor
ihr lag wie diese schmutzigen Nebelschwaden. Da konnte der Doktor ihr noch so
oft sagen, dass Batavia eine durch und durch europäische Stadt sei – nun, eine
weitgehend europäische Stadt – und sie alles ganz vertraut finden würde. Sie
zweifelte an seinen Worten. Er und Paula lechzten ja förmlich danach, ihr neues
Leben zu beginnen, sie würden aufgeregt jeden Tag abhaken, den sie auf See hinter
sich gebracht hatten, und sich dann kopfüber in das neue, bunte Leben stürzen.
Aber Neele war keine Abenteurernatur. In dieser Hinsicht war sie mit Frieder
eines Sinnes. Sie würden in Pastor Clemens’ Schule wohnen, dort mit anpacken
und den gefährlichen Verlockungen des gottlosen Landes so weit wie möglich aus
dem Wege gehen. Bei dem Gedanken daran fühlte sie sich ihrem Mann plötzlich so
nahe, dass sie die Hand unter seinen Arm schob und ihn kräftig drückte. Er reagierte
mit einem unbestimmten Gebrummel.
    Der Zug war gedrängt voll mit anderen Reisenden, die auch an Bord
der Meisje Mariaan gehen wollten. Sooft einer der
großen Auswandererdampfer in See stach, organisierten die Eisenbahnen und
Dampfschifffahrtsgesellschaften gemeinschaftlich die Reise, die dann in den
Zeitungen annonciert wurde. Bis ins letzte Dorf ging die Nachricht, dass am
soundsovielten ein Hochseedampfer im Hafen lag. Dann musste man sich eilen,
eine Karte zu ergattern, oder sich auf die Warteliste setzen lassen, denn die
Nachfrage war groß.
    Alle Welt schien in die Ferne zu strömen, alle in der Hoffnung, dort
ein besseres Leben zu ergattern. So waren es teilweise ganze Familien, die sich
auf den engen Holzbänken der Abteile drängten, ihre Koffer und Reisetaschen
zwischen den Knien, die kleinen Kinder auf dem Schoß. Die wenigsten sahen froh
und unternehmungslustig aus. Ihre Gesichter waren angespannt und von der bangen
Frage gezeichnet, ob sie mit ihrer Entscheidung nicht vom Regen in die Traufe
gerieten. Nur einige wenige – und das waren junge Burschen – zeigten sich fröhlich,
lachten und schwatzten und schwadronierten davon, wie rasant schnell sie es in
der Ferne zu Reichtum bringen würden. In dem Abteil, in dem

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