Im Land der Orangenbluten
einen der kleinen Fladen in die gierig ausgestreckte Hand.
»Frau kalt und jetzt hat lange geschlafen. Aber jetzt Frau wieder wach. Ich Jaminala!« Sie klopfte sich mit der flachen Hand auf den Oberkörper und lächelte zufrieden.
Oayanas? Was bedeutete das? Indianer? Eingeborene? Erikas Gedanken rasten in ihrem Kopf durcheinander. Natürlich wusste sie, dass Surinam zunächst von Indianern bevölkert worden war, das hatte Reinhard ihr mehr als einmal erläutert. Und natürlich hatte sie davon gehört, dass es im Regenwald noch Eingeborenenstämme gab, die Plantagensklaven handelten sogar ab und zu Tauschgeschäfte mit ihnen aus, wenn die Buschneger nicht dazwischenkamen. Aber getroffen hatte Erika bisher noch keine Eingeborenen, sie lebten schließlich weit ab von jeglicher Zivilisation, auch das hatte Reinhard ihr immer wieder erklärt, schließlich war er ja auch ausgezogen, um sie zu missionieren. Bedeutete das, dass sie sich weitab von jeglicher Zivilisation befand? Sie betrachtete die Frau neben ihrem Lager. Sie schien nett und wohlwollend zu sein, außerdem hatte sie sich offensichtlich gut um Reiner gekümmert.
Jetzt reichte sie Erika einen der Fladen aus dem Korb. Erika zögerte. Gab es nicht sogar Kannibalen im Regenwald? In der Stadt hatte man sich viele Schauergeschichten erzählt.
Aber als ihr Magen sich jetzt knurrend meldete und auch Reiner immer noch zufrieden neben ihr lag und spielte, nachdem er einige dieser Fladen verspeist hatte, griff sie dankbar zu. Zögerlich biss sie hinein und genoss schon bald den überraschend süßen Geschmack auf der Zunge. Dankbar nahm sie noch zwei weitere saftige Küchlein an. Sie spürte, wie ihre Lebensgeister erwachten.
»Frau lange geschlafen, Frau aufstehen.« Jaminala erhob sich und nahm den Korb mit sich. »Frau kommen!«
Erika setzte sich auf, sofort überkam sie leichter Schwindel und ... jemand hatte sie ausgezogen! Schamhaft versuchte sie, sich mit dem Tuch halbwegs zu bedecken, aber entweder blieben ihre Brüste frei oder die Knie. Dann doch lieber die Knie. Reiner war bereits vom Lager gesprungen und nach draußen gelaufen. Schwankend erhob sie sich und folgte Jaminala aus der Hütte.
Draußen fand sie sich auf einem Platz zwischen vielen kleinen, gedrungenen Dächern wieder. Rings herum erhoben sich mächtige Bäume und undurchdringliches Grün. Vor den Hütten saßen vereinzelt Frauen, kleine Feuer qualmten. In der Mitte auf dem Platz saßen einige Männer beisammen, und um sie herum tollte eine nackte Kinderschar, begleitet von einigen Hundewelpen. Mittendrin Reiner. Die Bewohner des Dorfes schenkten Erika keine besondere Beachtung. Einige blickten kurz auf und nickten ihr zu.
Eine der Frauen winkte Jaminala und Erika zu sich und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Erika versuchte, sich möglichst schicklich niederzulassen, ohne dass dabei das Tuch verrutschte, mit dem sie ihren Körper bedeckte. Dann reichte ihnen die Frau zwei kleine Schälchen und füllte sie mit einem Getränk aus einer Kalebasse. Jaminala trank die Schale gleich in einem Zug aus. Erika zögerte und versuchte mit der Hand die vielen großen schwarzen Fliegen zu verscheuchen, dann nippte sie vorsichtig an dem Getränk. Ihre Lippen waren trocken, und sie hatte Durst. Das Gebräu war scharf und bitter, aber auf dem Weg durch den Hals bis in den Bauch hinterließ es eine wohlige Wärme. Alkohol? Misstrauisch blickte sie in Richtung Jaminala, aber als die beiden Frauen ihr grinsend bedeuteten, sie solle trinken, leerte sie ihr Schälchen in einem Zug. Sofort schien sich in ihrem Hals ein kleines Feuer zu entfachen. Das Zeug war stark, stärker als ein Glas Dram, mit dem Erika auf der Plantage versucht hatte, die Gedanken an Ernst van Drag herunterzuspülen. Jetzt spürte sie, wie sich in ihrem ganzen Körper ein entspanntes Gefühl ausbreitete. Umnebelt von dem starken Alkohol beobachtete sie Reiner, wie dieser mit den anderen Kindern spielte. Zwischendurch blickte er glücklich zu seiner Mutter herüber und winkte ihr zu. Erika ging das Herz auf. Sie lebte. Hoffentlich waren sie auch weit genug weg von Bel Avenier! Weit genug weg von Ernst van Drag! Durch den Nebel in ihrem Kopf drang langsam von weit her ein Gedanke. Das Kind! Die Schwangerschaft! Vielleicht ... durch den Sturz in den Fluss. Nein! Das durfte sie nicht denken.
Kapitel 4
Karls Augen zogen sich zu zornigen Schlitzen zusammen, und Julie duckte sich unmerklich, weil sie wusste was kommen würde. Martina war soeben
Weitere Kostenlose Bücher