Im Land der Regenbogenschlange
Bild: Ein Leser umgeben von sieben Männern, die links das Bier halten und rechts die Knöpfe am Automaten drücken. Fast still ist es jetzt, nur Geld sprudelt ab und zu. Was uns verbindet, ist unser Alleinsein. Sacht gehen wir damit um, nicken uns stumm zu, keiner will es dem andern nehmen. In den Zeitungen stand heute ein Bericht über einen Mann, der mit einem Panzerwagen der Armee durch einen Stadtteil Sydneys brauste und dabei »verzweifelt« sieben Telefonmasten umriss. Wie verschieden wir doch mit Einsamkeit umgehen.
Am nächsten Morgen Richtung Süden. Habe gestern erfahren, dass der englische Romancier und »Skandalautor« D. H. Lawrence kurze Zeit in Thirroul gelebt hat, einer Kleinstadt, eine gute Stunde von Sydney entfernt. Ich merke wieder, dass ich einem begegnen muss, der mich impft. Gegen das brave Leben, die Einluller, merke, dass ich mit zunehmendem Alter wieder Kind werde, das nach Bildern, nach Vorbildern sucht, die es anspornen. Als der Bus kilometerlang durch die gesichtslosen Vorstädte rollt, verstärkt sich dieses Gefühl. Herr im Himmel, wer will hierher ziehen, aus freien Stücken? In diese Ãde, in diese Häuser, in denen man nur als Selbstmörder oder Selbstmordattentäter hausen kann. So habe ich mir immer Orte vorgestellt, über die in der Presse irgendwann steht, dass ein gewisser Mister Sullivan seine Familie mit dem Küchenmesser zerstückelt hat und die Nachbarn anschlieÃend bestürzt ausriefen: »Mister Sullivan konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich kann es gar nicht glauben, nie hätte ich ihm das zugetraut.«
Ich glaube es immer, traue jeder dieser Geschichten. In Lichtgeschwindigkeit kann ich mich in einen Totschläger hineinversetzen, kann im Zeitraffer Mister Sullivan nachempfinden. Wie er die Jahre, die Jahrzehnte über alles einsteckte, jeden Tag zuschauen musste, wie seine Träume nicht abhoben und Wirklichkeit wurden. Und wie er sich eines Tages nicht mehr zu helfen wusste und zu zerstückeln anfing. Armer Sullivan, hätte er ein Buch von Lawrence gelesen, es hätte ihn vielleicht dazu verführt, anderen Sehnsüchten hinterherzurennen. Weniger viereckigen, weniger grauen, weniger grau machenden.
Ein Gespräch lenkt ab. Ãber mein Weltempfänger-Radio höre ich auf ABC (Australian Broadcasting Corporation) ein Interview mit einem Schriftsteller, mit Jacob G. Rosenberg. Der 85-Jährige stellt sein neues Buch vor, Sunrise West . Die Geschichte (seine Geschichte) eines Polen, der im Getto von Lodz aufwuchs, nach Auschwitz kam und schon am ersten Tag seine Familie verlor. Von der Rampe weg vergast.
Der Alte gefällt mir. Lässig erzählt er, mit Ironie, mit Weisheit. Einer, der alles gesehen hat und alles überlebt. Und er erwähnt seine Dankbarkeit Australien gegenüber, wohin er 1948 emigrierte (kein Land hat mehr Holocaust-Flüchtlinge aufgenommen). Ich beneide ihn. Das klingt absurder, als es ist. Neid, weil er ein Schicksal hatte. Und ihm standhielt. (Ich werde das Buch in den nächsten Tagen lesen und einen brillanten Stilisten entdecken, der ohne Greinen festhält, ohne Rachegelüste, nur fassungslos, das schon.) Man erfährt in dem Interview noch, dass er in Melbourne wohnt. Wenn ich dort ankomme, will ich ihn treffen, ihn aushorchen. Ich renne jedem hinterher, der von inneren Landschaften weiÃ, an die ich selbst nie rankomme.
Mitten in einer von Mister Sullivans »suburbs« (wörtlich: Unterstädte) fährt der Bus an einer Plakatwand vorbei. Man sieht darauf eine riesige Küchenschabe, neben ihr eine Spraydose, das tödliche Mittel, um mit der Plage aufzuräumen, Text: »Endangered species«, vom Aussterben bedrohte Art. Ich habe gerade das Gespräch mit Rosenberg gehört, da wirkt die Werbung seltsam befremdlich.
Kurz vor Mittag in Thirroul, nicht weit vom Bahnhof liegt die Craig Street. Ich frage nach dem Weg und jeder weià Bescheid. Irgendwie scheinen sie stolz auf den berühmtesten Mann, der es je hierher geschafft hat. Dennoch, man versteht nicht recht, warum der ewig Getriebene sich dieses Nest als (zeitweiliges) Refugium ausgesucht hat. Erst als ich an Wyewurk vorbei (so nannte er den Bungalow) bis vor zum Wasser gehe, kommt die Antwort. Dramatisch schlägt das Meer an die Steilküste, von links die finster dräuenden Wolken, von rechts ein Regenbogen, von allen Seiten her brausender Wind, der den Regen an Land
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