Im Land der Regenbogenschlange
»lebenswertesten Provinzstadt des Staates« (so trompetet der Bürgermeister in Anzeigen) fliehe ich in ein Café. Das ist leicht gesagt in Australien. Denn hier haben sie die unmenschliche Angewohnheit, diese Orte der Eintracht und Hingabe ab 15 Uhr zu schlieÃen. (Das würde in Ãsterreich, Arabien und Frankreich einen Bürgerkrieg auslösen.) Zuletzt finde ich in der Mall , dem Shopping Center, einen revolutionären Kaffeehausbesitzer, der eine Stunde später schlieÃt. Allerdings benutzt er diese sechzig Minuten, um zwischen den Beinen der Gäste die Kuchenkrümel wegzusaugen. Lärmig, ungeniert.
Direkt neben dem Kaffeehaus steht eine Box aus niedrigen Pappwänden, hinter denen ein (seriöser) Massage-Salon seine Dienste anbietet. Jeder, der vorbeigeht, kann hinschauen und Halbnackten bei der Behandlung zusehen. Ich warte darauf, dass wir per Gesetz aufgefordert werden, unsere Toilettentüren herauszureiÃen. Damit nichts mehr in unserem Leben unbeobachtet bleibt. Denn die Ãffentlichkeit, so die Marktschreier des unbremsbaren Exhibitionismus, hat ein Recht auf Information.
Wie ein Heimatvertriebener irre ich durch einen Ort, den man in Stunden zum Friedhof umgraben könnte. Irgendwann sehe ich â es ist längst dunkel â einen grellroten Frauenmund blinken, bei jedem Aufleuchten blinkt das Wort »Open«. Für Augenblicke halluziniere ich, denke, dass eine Schöne mir einen Kussmund zuwirft. Bis ich wieder aufwache und kapiere, dass hier ein letztes Restaurant noch offen hat. So werden die hier Gestrandeten darüber informiert, dass sie dort drüben noch leben, noch immer nicht gestorben sind.
Am vitalsten klingt das Schnarren der Ampeln, wenn das FuÃgänger-Grün erscheint. Das Geräusch soll die Blinden einladen, jetzt den Zebrastreifen zu überqueren. Aber auch Blinde sind hier um diese Zeit nicht zu finden. Fast poetisch klingt das, mitten in der Nacht um sieben Uhr abends, mitten in einer leeren Stadt, unter einem leeren Himmel.
Ich finde zwei Armenier, zwei Kebab-Männer. Ich esse ein Sandwich unterm kalten Licht ihres Ladens. Hinterher die Neon-Bude verlassen, zum Rauchen. Wie ein Obdachloser suche ich einen Hauseingang, um eine Zeitung unter den Hintern zu legen, einen Zigarillo anzuzünden und das Radio einzuschalten. Ein Autor wird zu seinem neuen Buch befragt, er schreibt über die 50er Jahre in Australien. Damals wurden die (seltenen) Touristen bei Ankunft über die Beweggründe ihrer Reise interviewt. Nicht wie heute aus Sicherheitsgründen, nein, die Australier waren damals so scheu und bescheiden, dass sie nicht glauben konnten, jemand würde freiwillig, aus Neugier eine so lange Reise antreten. So mussten sie jeden fragen, um ganz sicher zu sein.
Ich bin nicht lange allein. Die anderen Herumtreiber haben mich geortet. Sicher riechen sie meine Kebabfinger, sie sind auch hungrig. Aber ihre Litaneien sind fad, einer erfindet ein Asthma, der andere jammert von seiner davongelaufenen Frau. Ich spende grundsätzlich nur, wenn mir der Schnorrer ein fantasievoll erstunkenes Gräuelmärchen erzählt. Als Gegenleistung für meine Dollar. Aber heute bin ich schwach, prinzipienmüde. Als ein Dritter vorbeikommt, erkläre ich, dass seine beiden Vorgänger mich gerade gerupft haben. Darauf die souveräne Antwort: »O.k., no problem.«
Ich gehe zurück ins Hotel. Habe ich einen Schutzengel, dann jetzt, denn er schützt mich vor Wollongong und führt mich direkt auf ein Sofa, direkt neben eine blonde Frau. Weil ich mich ins (warme) Fernsehzimmer verirre. Elton John beantwortet gerade Fragen auf MTV . Ich verehre den Künstler, aber vergesse ihn augenblicklich, als die Blonde und ich zu reden beginnen. Sagen wir, ich erkundige mich und sitze anschlieÃend mit offenem Mund da. Erin sieht aus wie eine Amazone, über 1,80 Meter stattlich, lange glatte Haare, ein rundes Sommersprossen-Gesicht, mit blauen, mutigen Augen, die vor nichts ausweichen. Sie ist wie ein (offener) Tresor, ich brauche nur die Hand auszustrecken und die Schätze einzusacken.
Und die Wilde packt aus. Als Erin zehn ist, stirbt ihre geliebte Mutter bei einem Verkehrsunfall. Auf der Beerdigung erfährt das Kind von der GroÃmutter, dass weder Mutter noch GroÃmutter ihre leiblichen Verwandten sind. Genauso wenig wie der (gehasste) Vater. Der »was just an asshole«, kein Schläger, aber ein fieser
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