Im Land der Regenbogenschlange
Einzeltäterin. Man glaubt ihr kein Wort, kein Mensch könne so viel trinken. Ja richtig, mit den übrigen Litern habe sie sich geduscht. Wieder Prügel, hinterher hängen sie ihr ein Schild um den Hals: »Thảo ist ein Schwein, sie hat Wasser gestohlen«. Tagelang hängt es, muss es hängen.
Es kommt der Morgen, nach vielen Morgen, an dem sie â die Frau ohne Mittel, ohne Liebe, ohne Mann, ohne Kind, ohne Zukunft â beschlieÃt, ein letztes Mal die Flucht zu ergreifen. Auch den eigenen Tod einkalkuliert. Sie hat nichts mehr zu verlieren. Nur noch das Leben, und das scheint nichts wert.
Kurz vor der Mittagspause legt sie die Axt zur Seite und schleicht zu einem etwa eineinhalb Meter hohen Baumstumpf, in dem sich ein breiter Riss befindet, groà genug für ihren (schmalen) Körper. Vor Tagen hat sie das Versteck entdeckt. Der Haken: Es wimmelt von Ameisen. Deshalb nahm sie heimlich an jenem Morgen die Plastikfolie mit, die sie sonst nur bei starkem Regen benutzt. Sie klettert in das Ameisenloch, getrieben von dem unbedingten Willen, die Insel zu verlassen. Kurz darauf hört sie den stündlichen Appell. Normalerweise ruft einer der beiden Wachhabenden die fünfzehn Nummern auf und die betreffende Nummer (das wäre ein Mensch) meldet sich. Aber heute kommt kein »Nummer fünf anwesend«. Panik, sofort frenetische Suche, sie hetzen an dem Stumpf vorbei â und blicken nicht hinein. Zu abstrus scheint die Möglichkeit, sich dort zu verbergen.
Der Suchtrupp kehrt unverrichteter Dinge ins Gefängnis zurück, Thảo kriecht hinaus, rennt runter zum Meer, wäscht sich wie von Sinnen die Qual von der Haut, streckt den ramponierten Leib auf dem Sand aus, blickt aufs Wasser, blickt auf ihre Retter. Zwei Männer rudern ein Fischerboot, sie rudern heimlich, sie wollen Holz sägen und es nachts zurück zum Festland schmuggeln. Anständige Männer, die Erschöpfte bekommt etwas zu trinken, die beiden teilen ihr Trockenfleisch mit ihr. Sobald es dunkel ist, brechen sie auf, vollgepackt mit Holz und dem Flüchtling.
Eine Glückssträhne beginnt. In Saigon findet sie einen Arzt, der ebenfalls die Kommunisten verachtet. Er bringt die Patientin kostenlos einige Tage in einem Krankenhaus unter und betreut sie. Und verpasst ihr Beruhigungsspritzen, denn bisweilen, sagt sie, sorgte sie sich um ihren Verstand. Der nächste Glücksfall: Da sie von den Russen ohne Papiere aufgegriffen wurde, gab sie im Gefängnis einen falschen Namen und eine falsche Adresse an. Sie kann somit offiziell nicht gesucht, nur physisch wiedererkannt werden. Und so geschieht es.
Vier Monate später, Thảo hat ihren Sohn und die Marktbude wieder, kehrt sie von der Arbeit heim und hört â sie denkt, sie verliert in diesem Augenblick tatsächlich den Verstand â die Stimme des Kapos, der sie wegen des Wasserdiebstahls züchtigte und am Tag ihrer Flucht für die 15 Häftlinge verantwortlich war. Thảo begreift, dass jetzt das Glück ein Ende hat. Vollkommen harmlos sitzt der Typ in einem StraÃenimbiss und vollkommen ahnungslos geht sie auf ihn zu. Als sie ihren Namen rufen hört â »Lan«, so nannte sie sich damals â kommen ihr die Tränen. Wie kann ein Mensch so viel Pech haben.
Der Schläger macht ihr Zeichen, sich zu nähern, Subtext: Hab keine Angst! Sie nähert sich, mit Angst. Aber abhauen wäre zwecklos, der Athlet würde hinter ihr herrennen. Sie braucht tatsächlich nichts zu fürchten, denn der Mensch unterbreitet ihr einen erstaunlichen Vorschlag. Sie verrät ihm, wie sie die Insel verlieà (bis dahin war das niemandem gelungen), und er lässt sie laufen. Sein Ansinnen klingt umso absurder, als er nach ihrer Flucht degradiert wurde. Wegen mangelnder Aufsichtspflicht. Aber er scheint so versessen auf eine Lösung des Rätsels, dass er zu jedem Kompromiss bereit ist. Und Thảo erzählt von dem Ameisenbaum und Phong erinnert sich selbstverständlich an ihn, auch daran, dass er ohne stehen zu bleiben woanders weitersuchte. Und sie erzählt von den Fischern und der nächtlichen Flucht an Land.
Noch eine Drehung. Phong hat jetzt Mitleid, er nimmt Thảo mit zu seiner Mutter, die ihr anbietet, ein paar Tage mit ihrem Kind bei ihnen zu wohnen. Aber sie traut den Kommunisten nicht, bei der nächsten Gelegenheit huscht sie davon.
Der Fluchtgedanke lässt sie nicht los, Flucht aus
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