Im Land der Regenbogenschlange
Russland, wo Tanja, die transsibirische Schönheit, in unser Abteil kam und wunderbar singen und (unseren) Whisky leeren konnte. Und ich erschrecke plötzlich, weil ich begreife, dass ein (grausiges) Alter so aussehen muss: nicht mehr leben, sondern sich nur noch erinnern. Dieser Zug gibt einen Vorgeschmack auf jene toten Zeiten, die jeden erwarten, der nicht höllisch aufpasst. Und â nochmals plötzlich â ist alles gut. Keine Ahnung, wie lange ich verschreckt ins Leere gestiert habe. Gut, weil ich ab sofort einverstanden bin. Weil mir die beispiellose Fadheit eine Lektion erteilte, mir einen Blick in die Zukunft gönnte. Die mich einlullen und niedermachen wird, wenn ich mich nicht wehre. Mit Widerspenstigkeit, mit atemloser Neugier, mit dem ganz und gar heiligen Gedanken, dass mir nichts anderes gehört als dieses eine Leben.
Vieles wird besser. Am anderen Ende des Speisewagens sitzt ein Mann, der aussieht wie Gregory Peck als Kapitän Ahab in der Moby-Dick -Verfilmung, genau die Augen, genau der Bart. Natürlich kann ich mich dazusetzen. Angus ist Kiwi, Neuseeländer, lebt aber seit Langem in Australien. Auf seiner rechten Schulter liegt ein kleines Kissen. Er hat es in der Mikrowelle wärmen lassen, es soll eine gemeine Schwellung beruhigen. Etwas Chronisches. Ãber die Jahre ist er schwerhörig, nein, schwersthörig geworden. Spricht jedoch einigermaÃen verständlich. »Ãbung«, sagt er. Er zeigt mir alle Gerätschaften, die er im Laufe der Zeit angeschafft hat, um dem Fluch der Taubheit zu entgehen. Er deutet auf sein linkes Ohr, wo sie ihm für 45â000 Dollar ein Hightech-Wunder eingebaut haben. Aber auch das taugt nicht viel, am besten seien noch immer sein Kopfhörer und ein Mikrofon mit Verstärker, das er dem Gesprächspartner hinhält. Trotzdem, meint er, ein bisschen Schreien könne nicht schaden. Also schreie ich ihn an. Da wir uns in der australischen Wildnis aufhalten, fällt es nicht weiter auf.
Und jetzt geschieht tatsächlich ein Wunder, denn der 61-Jährige behauptet, er könne Lippen lesen. Auch das habe er gelernt. Das will ich sehen, ich konfisziere alle seine Gerätschaften, schalte das linke Ohr aus, lehne mich zurück und spreche in einer Lautstärke, die selbst für einen gesunden Menschen kaum verständlich wäre. Ich erzähle Angus eine Nachricht, die ich kürzlich gelesen habe. Und das Genie dechiffriert sie von meinen Lippen, ich fasse es nicht, er gibt ziemlich genau das wieder, was ich gemurmelt habe: »Scotland Yard hat eine Frau zur Terroristenbekämpfung engagiert, die Lippen lesen kann. Damit sie sich in einschlägigen Bars und Pubs herumtreibt, um Verdächtigen auf den Mund zu schauen.«
Angus packt aus, hat auch in den USA , in England und Südafrika gearbeitet, war alles, auch Polizist, Gefängniswärter und Gefängnisinsasse. In dieser Reihenfolge. Weil er irgendwann, erklärt er, den Geschichten der Galgenvögel nicht mehr widerstehen konnte, ja, selbst reich werden, selbst nach fremden Scheinen greifen wollte. Und griff. War nach dem Reichtum und dem Zuchthaus Taxifahrer, Immobilienhai, Mechaniker, Seemann und Detektiv bei einer Versicherungsfirma, um Versicherungsbetrüger zu überführen. (Allein für einen solchen Lebenslauf muss man Australien lieben.) Jetzt arbeitet er an der Börse, spekuliert mit Devisen. Zahlen faszinieren ihn. Vor ihm liegt ein Buch über den italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci. Frühes 13. Jahrhundert, so höre ich. Ich schlage es irgendwo auf und sehe, dass Ahab die Formel x 3 + 2 x2 + cx = d rot umkringelt hat, rechts daneben ein Ausrufezeichen. Entweder ist Angus ein IQ -Hüne oder ein raffinierter Aufschneider von Gottes Gnaden.
Das Multitalent reist nach Perth, um seine Kinder zu besuchen, die Familie brennt, er muss löschen kommen. Einer seiner Söhne ist der Missratene, der Trinker, Junkie und Schläger, die Polizei beschäftigt sich wieder mit ihm. Und Angus wird löschen, auch diesmal. Er kann nicht umfallen, sagt er, er sei ein »Opportunist« im stets positiven Sinn, einer eben, der Gelegenheiten ergreift, kein Zauderer.
Um 10 Uhr 35 kommen wir nach Cook, dem einzigen Stopp auf der Strecke. Der Zug fährt noch, ich habe die Tür schon geöffnet, will so schnell wie möglich raus. Eine Schaffnerin hat die Nerven und kommandiert: »Be seated till the train comes to a
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