Im Land der Sehnsucht
der Einband gelöst, einige zeigten sogar Eselsohren. Zwischen den Fenstern stand eine große schwarze Tafel, davor waren zehn Schulbänke aufgereiht, alle aus demselben goldbraunen, matt glänzenden Holz. Sonst fielen vor allem zwei kostbare Globusse auf geschnitzten Ständern ins Auge: ein Erd- und ein Himmelsglobus.
„Findet hier Georginas Unterricht statt?“, fragte Marissa, die kein Anzeichen dafür entdecken konnte.
„Miss Lois gibt die Stunden lieber unten im Gartenzimmer“, antwortete Olly mit kaum verhohlener Missbilligung. „Im Übrigen tut sie das nicht oft, doch das muss unter uns bleiben. Falls Holt es Ihnen noch nicht erzählt hat … Die kleine Georgy kann einem zu schaffen machen.“
„Eigentlich seltsam, nicht wahr?“ Marissa nahm kein Blatt vor den Mund. „Bei dem Vater!“
Olly zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Was wollen Sie damit sagen?“
„Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass jemand den Mut aufbringt, sich Mr. McMaster zu widersetzen.“
Olly lachte. „Holt ist zwar ein Mann mit Autorität, trotzdem lässt Georgy sich nur schwer bändigen.“
„Ihr fehlt die Mutter.“
„Ihr fehlt eine Mutter“, verbesserte Olly sie. „Ihre eigene wollte sie nicht haben, das weiß Georgy nur zu gut, und da liegt auch der Grund für ihre Probleme. Sie müssten das am besten verstehen.“
„Oh ja, Olly, das tue ich.“ Marissa empfand sofort Mitleid mit dem mutterlosen Mädchen. „Hoffentlich finden die Kinder Gefallen aneinander.“
„Erwarten Sie nicht zu viel“, warnte Olly sie. „Jetzt zeige ich Ihnen erst mal Ihre Zimmer. Sie liegen auf der anderen Seite des Flurs. Wenn sie Ihnen gefallen, werde ich sie lüften und die Betten beziehen lassen.“
Die Räume lagen nebeneinander und hatten eine herrliche Aussicht auf den rückwärtigen Garten und einen Swimmingpool.
„Ist das auch keine Fata Morgana?“, fragte Marissa und zeigte auf das blau schimmernde Wasser. Schwimmen würde für Riley die beste Medizin sein. Sie selbst liebte diesen Sport und hatte wiederholt mit Bestleistungen in der Schulmannschaft geglänzt.
Rechts vom Pool stand ein nach allen Seiten hin offenes Badehaus mit rotem Ziegeldach und dicken Säulen, um die sich violette Prachtwinden rankten. Im Innern konnte Marissa Sofas, niedrige Tische und bequeme Sessel erkennen.
„Nein, meine Liebe“, versicherte Olly, „das ist keine Fata Morgana. Benutzen Sie das Schwimmbecken nach Herzenslust. Der alte Mr. McMaster hat es seinerzeit für Holt und die Mädchen anlegen lassen.“
„Hat Mr. McMaster Schwestern?“, fragte Marissa. „Sie müssen meine Neugier entschuldigen. Ich habe ihn erst heute kennengelernt.“
Olly nickte. „Sie scheinen ihn spontan für sich eingenommen zu haben.“
„So weit würde ich nicht gehen“, wehrte Marissa ab. „Er wollte uns einfach nur helfen.“
„Ja, das passt zu ihm. Holt hat zwei Schwestern. Alexandra ist drei Jahre älter und mit dem Politiker Steven Bailey verheiratet, den einige für den künftigen Premierminister halten. Francine ist zwei Jahre älter, hat im Börsengeschäft Karriere gemacht und ist noch nicht fest mit einem Mann liiert. Holts Vater kam bei einem tragischen Arbeitsunfall ums Leben … das war kurz nach Holts Hochzeit. Seine Mutter hat kürzlich zum zweiten Mal geheiratet und lebt jetzt in Melbourne. Sie besucht uns regelmäßig.
Holts Großmutter Catherine ist von ‚Wungalla‘ nie für länger fort gewesen, seit sie als Braut herkam. Sie hat Verwandte in England, trotzdem ist ihr Zuhause hier. Unvorstellbar, dass sie die Ranch oder Holt verlassen könnte. Holt ist übrigens der Mädchenname seiner Mutter. Er wurde Douglas Holt McMaster getauft, doch seit sein Onkel Carson ihn einmal Holt genannt hatte, blieb es dabei. Olly sah Marissa scharf an. „Sie wissen, dass mein Boss geschieden ist?“
Marissa nickte. „Er hat es kurz erwähnt. Ach Olly, ich kann mein Glück kaum fassen. Diese Zimmer sind die Erfüllung meiner Träume.“
Die ältere Frau war sichtlich gerührt. „Sie müssen auch nicht über den Flur gehen, um ins Bad zu kommen. Alle zwölf Schlafzimmer haben ein eigenes. Es war genug Platz da, um sie einzubauen. Wenn Sie sich Ihren Raum etwas wohnlicher gestalten wollen, finden Sie in den Abstellkammern genug alten Krimskrams. Holt hat bestimmt nichts dagegen, wenn Sie sich etwas aussuchen. Sie sollen es gut bei uns haben.“
Marissas Augen wurden feucht. „Und ich möchte mich bei Ihnen nützlich machen. Ich
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