Im Land der Sehnsucht
„Kommen Sie, meine Liebe. Wo sind übrigens Ihre Sachen?“
„Hal bringt sie herein.“ Holt hatte sich an der Tür noch einmal umgedreht. „Das Wenige, was da ist. Marissa ist mit leichtem Gepäck gereist.“
Olly legte ihr eine Hand auf den Arm. „Keine Sorge, meine Liebe, in Coorabri finden Sie alles, was Sie brauchen … für sich und den Jungen. Ein gut geratenes Kind und so hübsch, muss ich sagen.“
„Ja, das ist er“, bestätigte Marissa stolz. Olly hielt Riley wahrscheinlich ebenfalls für ihren Sohn, doch gegenteilige Versicherungen wären zu diesem Zeitpunkt sinnlos gewesen.
„Hoffen wir, dass es auf Georgina abfärbt“, seufzte Holt und verschwand im Haus.
Marissa sah ihm nach. Er bewegte sich mit der Leichtigkeit eines Athleten und wirkte außerdem geschmeidig wie ein Tänzer. Abgesehen von ihrem Vater, war ihr bisher kein Mann begegnet, der so fantastisch aussah.
Olly hatte Marissa aufmerksam beobachtet. „Kommen Sie“, sagte sie jetzt. „Wir wollen die Zeit vor dem Essen nutzen. Holts Großmutter können Sie heute nicht begrüßen, doch Miss Lois, Georginas Tante, wird bald zurück sein. Reiten Sie ebenfalls?“
„Oh ja“, antwortete Marissa, während sie sich staunend in der weitläufigen Eingangshalle umsah. Am auffälligsten war die breite Freitreppe mit einem bunten Glasbild über der Galerie. Der Fußboden war mit schwarz-weißen Marmorplatten bedeckt, in der Mitte lag ein runder Perserteppich, auf dem ein runder Tisch stand. Darüber hing ein prächtiger Kristalllüster.
Auf dem Tisch stand ein kostbares byzantinisches Goldgefäß mit einem üppigen Arrangement aus gelben Rosen, Kiefernzweigen und Weinreben. An der Rückwand stand eine Konsole, über der ein goldgerahmter Spiegel hing, davor standen zwei antike Stühle, deren Armlehnen von vergoldeten Bronzesphinxen getragen wurden. Es gab auch einige kostbare Gemälde, doch Marissa hätte mehr Zeit gebraucht, um sie zu betrachten. Eins war ihr allerdings schon klar: In diesem Haus waren seriöse Kunstsammler am Werk gewesen.
„Das ist gut“, meinte Olly. „Ihre Vorgängerin hatte keinen Sinn dafür. Hier draußen muss man einfach mit Pferden umgehen können. Wie steht es mit dem jungen Riley?“
„Er ist ebenfalls ein guter Reiter.“
Olly nickte beruhigt. „Wie die Mutter.“
Das war das Stichwort für Marissa. „Riley ist mein Bruder, Olly“, korrigierte sie die ältere Frau. „Genauer gesagt, mein Halbbruder. Unser Vater ist tot.“
Olly schlug die Hände zusammen. „Und seine Mutter?“
„Auf und davon … für immer.“
„Gütiger Himmel! Das muss sehr schwer für Sie sein, Marissa.“ Olly begann die Treppe hinaufzugehen. „Wie alt sind Sie? Zweiundzwanzig … dreiundzwanzig?“
„Fast vierundzwanzig. Ja, es ist schwer, Olly, aber ich liebe Riley. Er gehört zu mir, das ist ein großer Trost.“
„Natürlich, das verstehe ich.“ Olly nahm langsam Stufe für Stufe, wobei sie sich an dem schmiedeeisernen Geländer festhielt, das auch die obere Galerie umgab. Ob sie Marissas Beteuerungen glaubte, war nicht zu sagen. Da Riley sie ständig „Ma“ nannte, war eher das Gegenteil zu befürchten. Marissa hätte ihm die Anrede verbieten können, was sie jedoch nicht übers Herz brachte. Er brauchte eine Mutterfigur, an die er sich halten konnte. Daneben war alles andere unwichtig.
Marissa folgte Olly einen langen Korridor entlang. Auf dem glänzenden Holzboden lagen persische Brücken, die das Geräusch der Schritte dämpften. An den Wänden hingen Porträts der McMaster-Vorfahren. Sie hatten allesamt schöne, etwas hochmütige Gesichter, genau wie das jetzige Familienoberhaupt. In regelmäßigen Abständen standen wertvolle antike Sessel an den Wänden, auf denen man sich ausruhen und die Bilder betrachten konnte.
Am Ende des Flurs blieb Olly stehen. „Hier ist das Schulzimmer“, sagte sie und öffnete die Tür.
„Wie lange wird der Raum schon dazu benutzt?“, fragte Marissa, nachdem sie sich ein wenig umgesehen hatte.
„Seit das Haus gebaut wurde. Viele kleine McMasters haben hier gelernt, auch Holt. Werden Sie sich hier wohlfühlen?“
„Ganz bestimmt“, versicherte Marissa. „Ich bin sehr dankbar, diesen Job bekommen zu haben, Olly, denn dadurch muss ich mich nicht von Riley trennen.“
Das Schulzimmer war groß und etwas düster, was jedoch mit wenig Farbe geändert werden konnte. Rundum standen Regale voller Bücher, die offenbar regelmäßig gelesen wurden. Bei vielen hatte sich
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