Im Land der Sehnsucht
„Onkel Bryan gab sich immer große Mühe …“
„Und Tante Allison?“ Olly begann zu ahnen, wie Marissas Familienleben ausgesehen hatte.
„Sie tat auch, was sie konnte.“
Olly zögerte nicht, auch noch die nächste – entscheidende – Frage zu stellen. „Und Ihr Vater?“
Marissa schüttelte den Kopf. „Darüber bin ich nicht in der Lage zu sprechen, Olly. Der Schmerz ist noch zu groß. Vielleicht später einmal …“
„Schon gut, meine Liebe.“ Olly merkte, dass sie das Thema zu früh angeschnitten hatte. „Ihr Essen ist ganz kalt geworden. Soll ich alles noch einmal aufwärmen?“
„Nein, danke. Das Roastbeef hat wunderbar geschmeckt … das Kartoffelgratin und die Erbsen auch. Sie sind eine großartige Köchin, Olly. Vielleicht könnten Sie mir etwas Unterricht geben, wenn Ihre Zeit es zulässt. Ich habe jahrelang studiert, jedoch nie richtig kochen gelernt. Tante Ally scheuchte mich immer aus der Küche und überließ mir dafür den Abwasch, den sie genauso hasste wie Lucy.“
„Lucy?“ Olly beugte sich interessiert vor.
„Meine Cousine. Sie ist zwei Jahre älter als ich.“
„Da hätten Sie doch die besten Freundinnen sein können!“
Marissa lächelte wehmütig. „Das Gegenteil war der Fall, Olly. Wir standen von Anfang an auf Kriegsfuß, woran ich sicher nicht unschuldig war. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die meiste Zeit damit verbracht, gegen aufsteigende Tränen anzukämpfen.“
„Armes Kind“, sagte Olly bewegt.
„Ich habe nicht wie Georgy herumgetobt, wenn der Schmerz zu groß wurde. Ich habe nicht geschrien, nicht geflucht und auch keinen Streit gesucht. Ich hasste sie alle, behielt das aber für mich. Tante Ally beklagte sich schon oft genug über meine Selbstsucht und Undankbarkeit.“
„Sie muss ein Ekel gewesen sein“, stellte Olly entrüstet fest.
Marissa begann zu lachen. „Oh ja, das war sie.“ Meine Tante war schuld daran, dass auch Lucy ihre Schwierigkeiten mit mir hatte. Wahrscheinlich hat sie genauso gelitten wie ich. Doch genug davon. Ich spreche normalerweise nicht gern über mich selbst.“
„Das sollten Sie aber tun.“ Olly drückte Marissas Arm und stand auf. „Es hilft, mit anderen über seine Probleme zu reden.“
Marissa wich ihrem Blick aus. „Ich habe mir angewöhnt, lieber zu schweigen.“
„Keine gute Angewohnheit“, erklang es in diesem Moment von der Tür her. Holt war unbemerkt zurückgekommen.
„Ach, Sie sind es nur, Sir.“ Olly verstand es meisterlich, der Situation jede Peinlichkeit zu nehmen. „Wie geht es Mrs. McMaster?“
„Sie hat sich hingelegt. Ich nehme an, Sie haben den Krach mitbekommen?“
„Notgedrungen.“ Olly streifte Marissa mit einem raschen Blick. „Ich hätte taub sein müssen, um nichts zu hören. Ausgerechnet heute Abend, wo es Mrs. McMaster so gut ging.“
„Es wird andere Gelegenheiten geben, Olly.“ Holt setzte sich wieder zu Marissa an den Tisch. „Alles in Ordnung?“
„Ja, danke“, antwortete Marissa, ohne Holt dabei anzusehen.
„Dann sind wir wohl bereit für den nächsten Gang.“ Holt griff nach seinem halbvollen Weinglas und leerte es in einem Zug. „Was gibt es zum Nachtisch, Olly?“
„Ricotta-Beignets mit Zitronensauce“, antwortete die Haushälterin. „Eins Ihrer Lieblingsdesserts.“
„Ausgezeichnet. Nur her damit. Meine Nerven können eine Stärkung vertragen.“
„Sofort“, versprach Olly und eilte in die Küche.
Marissa fühlte sich immer noch so unbehaglich, dass sie langsam ihre Serviette zusammenfaltete.
„Sie wollen ja wohl nicht gehen?“, fragte Holt. „Hatte ich Sie nicht gebeten zu bleiben?“ Marissa zögerte. „Ich möchte Ihre Nerven auf keinen Fall noch mehr strapazieren, Mr. McMaster.“
„Lassen Sie das meine Sorge sein, Miss Devlin. Leisten Sie mir beim Dessert Gesellschaft, vielleicht haben Sie dann auch noch Lust, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken und mich anschließend in den Garten zu begleiten.“
Marissas Herz begann heftig zu klopfen. „Ist das nicht ein etwas … ungewöhnliches Abendprogramm für eine Erzieherin?“
Holt ließ sich mit der Antwort Zeit. „Das mag schon sein“, meinte er dann, „ich betrachte Sie aber als Freundin der Familie. Meine Großmutter ist sehr von Ihnen eingenommen, und das will etwas heißen. Mit Olly teilen Sie sogar schon persönliche Geheimnisse.“
Marissa errötete. „Wie lange haben Sie an der Tür gelauscht, Mr. McMaster?“
„Holt“, verbesserte er sie. „Um Ihre Frage zu
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