Im Land der weissen Rose
Mädchen kuschelte sich so vertrauensvoll
in sein Fell wie sonst in Helens Rockfalten.
»Rosemary!«, rief Helen alarmiert. Das Mädchen
fuhr zusammen und ließ den Hund los. Der wandte sich daraufhin
verwundert zu ihr um und hob wie bittend die Pfote.
Gwyneira lachte und machte ebenfalls eine beschwichtigende
Handbewegung. »Lassen Sie die Kleine ruhig mit ihr spielen«,
meinte sie gelassen zu Helen. »Cleo liebt Kinder, sie wird ihr
nichts tun. Tja, ich muss jetzt gehen. Mr. Warden wird warten. Und
ich sollte eigentlich gar nicht hier sein, sondern noch etwas Zeit
mit meiner Familie verbringen. Deshalb sind meine Eltern und
Geschwister ja extra nach London gekommen.Auch wieder so ein Unsinn.
Ich habe meine Familie jetzt siebzehn Jahre lang jeden Tag gesehen.
Da ist alles gesagt.Aber meine Mutter weint die ganze Zeit, und meine
Schwestern heulen zur Gesellschaft mit. Mein Vater badet in
Selbstvorwürfen, weil er mich nach Neuseeland schickt, und mein
Bruder ist so neidisch, dass er mir am liebsten an die Gurgel gehen
würde. Ich kann’s gar nicht erwarten, dass wir ablegen.
Was ist mit Ihnen? Ist für Sie keiner gekommen?« Gwyneira
sah sich um. Ãœberall sonst auf dem Zwischendeck wimmelte es vor
weinenden und lamentierenden Menschen. Letzte Geschenke wurden
getauscht, letzte Grüße ausgerichtet. Viele dieser
Familien wurden durch die Abreise für immer getrennt.
Helen schüttelte den Kopf. Sie war ganz allein mit einer
Droschke vom Haus der Greenwoods aus aufgebrochen. Den
Schaukelstuhl,das einzige sperrige Stück, hatte sie gestern
schon abholen lassen.
»Ich reise zu meinem Gatten nach Christchurch«,
erklärte sie, als würde dies das Fehlen ihrer Angehörigen
erklären. Doch auf keinen Fall wollte sie von dieser reichen und
offensichtlich privilegierten jungen Frau bedauert werden.
»So? Dann ist Ihre Familie schon in Neuseeland?«,
fragte Gwyneira aufgeregt. »Sie müssen mir bei Gelegenheit
davon erzählen, ich war nämlich noch nie ... aber jetzt
muss ich wirklich los! Bis morgen, Kinder, werdet nicht seekrank!
Komm, Cleo!«
Gwyneira wandte sich zum Gehen, aber die kleine Dorothy hielt sie
auf. Schüchtern zupfte sie an ihrem Rock.
»Miss, Verzeihung, Miss, aber Ihr Kleid ist ganz schmutzig.
Ihre Mama wird sicher schimpfen.«
Gwyneira lachte, sah dann aber doch besorgt an sich herunter. »Du
hast Recht. Sie wird Zustände kriegen! Ich bin unmöglich.
Nicht mal beim Abschied kann ich mich ordentlich benehmen.«
»Ich kann das abbürsten, Miss. Ich kenne mich aus mit
Samt!« Dorothy blickte beflissen zu Gwyneira auf und wies ihr
dann zaghaft den Stuhl in ihrer Kabine an.
Gwyneira setzte sich. »Wo hast du das gelernt, Kleines?«,
fragte sie dann überrascht, als Dorothy ihr Jackett geschickt
mit Helens Kleiderbürste bearbeitete; offenbar hatte das Mädchen
vorhin beobachtet, wie Helen ihre Pflegeutensilien in dem winzigen
Spind verstaut hatte, der zu jeder Koje gehörte.
Helen seufzte. Beim Kauf der kostbaren Bürsten hatte sie
eigentlich nicht daran gedacht, diese zur Beseitigung von Mistspuren
zu verwenden.
»Wir kriegen oft abgelegte Kleidung als Spende ins
Waisenhaus.Aber wir behalten sie nicht, sie wird verkauft. Vorher
muss sie natürlich sauber gemacht werden, und dabei helfe ich
immer. Sehen Sie, Miss, jetzt ist es wieder schön!«
Dorothy lächelte schüchtern.
Gwyneira suchte in ihren Taschen nach einem Geldstück, um das
Mädchen zu belohnen, fand aber nichts, das Kostüm war noch
zu neu.
»Ich bringe euch morgen ein Dankeschön mit,
versprochen!«, beschied sie Dorothy, als sie sich zum Gehen
wandte. »Und du wirst mal eine gute Hausfrau. Oder Zofe bei
ganz feinen Leuten! Wir sehen uns!« Gwyneira winkte Helen und
den Mädchen zu, als sie leichtfüßig über die
Brücke lief.
»Das glaubt die doch selbst nicht!«, meinte Daphne und
spuckte hinter ihr aus. »Solche Leute machen ständig
Versprechungen, aber dann sieht man sie nie wieder. Du musst immer
schauen, dass sie gleich was abdrücken, Dot! Sonst wird das nie
was!«
Helen schlug die Augen gen Himmel. Wie war das mit den
»auserwählten, braven und zum demütigen Dienen
erzogenen Mädchen«? Auf jeden Fall musste sie jetzt streng
durchgreifen.
»Daphne, du wischst das sofort auf! Miss Gwyneira ist euch
zu nichts verpflichtet. Dorothy hat sich selbst angeboten, ihr
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